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Alles auf Anfang

Alles auf Anfang

Titel: Alles auf Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benioff David
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sahen ihn
einen Moment fragend an und lachten dann. Leksi brauchte eine Weile, bis er merkte, dass sie mit ihm lachten und nicht über ihn.
    »Nein«, sagte Nikolai und klopfte ihm auf den Rücken. »Ich auch nicht.«
    Nach Einbruch der Dunkelheit entrollten sie ihre Schlafsäcke und schliefen abwechselnd, während jeweils einer Wache hielt. Leksi hatte die erste Wache, konnte aber nicht einschlafen, nachdem Nikolai ihn abgelöst hatte. Alle paar Minuten heulte ein Hund, und dann gaben alle seine Artgenossen Antwort, bis die Berge widerhallten vom Geheul einsamer Hunde, die nacheinander riefen. In einem nahen Baum schrie eine Eule. Leksi lag in seinem Schlafsack und starrte durch die Tannenäste nach oben. Ein Halbmond erhellte den Himmel, und er verfolgte, wie die schemenhaften Wolken vorüberglitten. Er hatte die Knie an die Brust gezogen, um es wärmer zu haben, und zuckte jedes Mal zusammen, wenn der Wind eine verirrte Tannennadel auf seine Wange wehte. Er hörte zu, wie Nikolai wieder eine selbst gedrehte Zigarette rauchte und wie Surchow im Schlaf mit den Zähnen knirschte.
    In wenigen Stunden musste er vielleicht um ein Haus kämpfen, das er vor diesem Abend noch nie gesehen hatte, gegen Männer, denen er noch nie begegnet war. Er hatte weder jemanden beleidigt noch die Freundin von irgendwem gevögelt, er hatte weder jemandem Geld gestohlen noch dessen Auto zu Schrott gefahren, und trotzdem würden diese Männer, falls sie hier waren, versuchen, ihn zu töten. Das erschien Leksi doch sehr bizarr. Wildfremde Menschen wollten ihn töten. Sie kannten ihn überhaupt nicht, aber sie
wollten ihn töten. Als wäre alles absolut belanglos, was er je getan hatte, was er im Gedächtnis bewahrte: die Mädchen, die er geküsst hatte; die Jagdausflüge mit seinem Vater; die Kuh, die er für seine Mutter gemalt hatte, als er sieben war, und die noch immer gerahmt neben ihrem Bett hing; oder wie er damals erwischt wurde, als er Katja Subritzkaja während einer Geometriearbeit verstohlen über die Schulter linste und der alte Lukonin ihn gezwungen hatte, aufzustehen und den Satz zu wiederholen, lauter und lauter, während die Schüler lachten und auf ihre Pulte schlugen: Ich bin Aleksandr Streltschenko und ich schreibe ab und ich schreibe nicht einmal geschickt ab . Diese Erinnerungen gehörten Aleksandr Streltschenko, na und? Keine von ihnen war von Bedeutung. Keine von ihnen war real außer dem Hier und Jetzt, dem Schnee, den Soldaten neben ihm, dem Haus auf der Anhöhe. Wozu brauchten sie dieses Haus? Um das Tal zu beobachten. Was gab es da zu beobachten? Bäume und Schnee und wilde Hunde, den in der Ferne aufragenden Kaukasus. Leksi rollte sich in seinem Schlafsack zusammen und stellte sich seinen abgetrennten Kopf vor einer Tür in Grosny vor, seine Augen die Augen eines toten Fisches auf einem Sockel aus Eis.
    Daheim hatte gerade die Nachtschicht in dem Abfüllbetrieb begonnen, in dem sein älterer Bruder arbeitete. Wenn Leksi nicht zur Armee gegangen wäre, dann wäre er jetzt dort, in einem warmen Gebäude mit staubigen Bleiglasfenstern, die Deckenbeleuchtung weich und gelb und gleichmäßig. Vielleicht wäre ein Förderband kaputtgegangen und Leksi würde aufgefordert, es zu reparieren; er sah sich eine gebrochene Rolle ersetzen und dann das Gummiband wieder einlegen. Ein Radio würde leise spielen, und Leksi würde
mit dem Vorarbeiter über Politik plaudern. Jeder kannte jeden; alle waren zusammen aufgewachsen. Sie waren befreundet, oder sie waren verfeindet, aber das hatte immer seinen Grund. Er selbst würde beispielsweise Bobo mögen, weil Bobo der Torhüter ihres Hockeyclubs war; er würde Timur hassen, weil Timurs Frau sehr schön war und Timur enge Levi’s trug, die ihm sein Bruder aus Amerika schickte. Das wäre nur logisch. Das wäre ein Leben, das Sinn machte. Und nachts würde er vielleicht von Abenteuern träumen, davon, mit dem Gewehr neben sich im Schnee zu schlafen, Häuser auf Anhöhen zu stürmen und gegen die tschetschenischen Rebellen zu kämpfen, aber das wäre nur ein Traum, und am nächsten Morgen würde er seinen Kaffee trinken und die Zeitung lesen und betrübt mit der Zunge schnalzen, wenn da stand, dass in Tschetschenien wieder drei junge Männer getötet worden waren.

    Um drei Uhr früh stiegen sie den Hügel hinauf. Ihre Rucksäcke ließen sie zurück, fest verpackt in wasserdichte Planen und im Schnee vergraben, die Stelle markiert mit abgebrochenen Zweigen und Tannenzapfen. Der Mond

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