Alles auf Anfang
den Flammen überrascht worden war, verkohlt bis zur Unkenntlichkeit. Die Zahnbürste warf ich zum Fenster hinaus, verfolgte, wie sie sich im Fallen überschlug, verfolgte, wie sie sich in den blühenden Zweigen eines Hartriegels verfing. Dort hängt sie noch immer, diese Zahnbürste, ein orangefarbener Stinkefinger, der jedes Mal auf mich deutet, wenn ich an dem Strauch vorbeigehe.
Mein Kopf war voll von deinen Geschichten. Und besonders von Leonard. Herrgott, ich hörte so gerne zu, wenn du redetest. Abends blieben wir meist lange wach, in unser kaltes Bett gekuschelt, eine Pyjamaparty für zwei, während am anderen Ende des Zimmers der arthritische Heizkörper ächzte. Und du erzähltest mir Geschichten. Deine Familie war voll von rowdyhaften Trinkern: Falschspielern, Bigamisten, Saxofonisten und Löwenbändigern. Allesamt verrückt und allesamt abenteuerlich. Du warst die erste Frau, die ich kannte, die Familiengeschichten erzählte, die ich hören wollte. Ich bekam nie genug davon. Und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich mich nicht mit ähnlich interessanten Storys revanchieren konnte. Die Trinker, die ich kenne, trinken heimlich, sind wortkarg und schlagen schnell zu. Aus Angst vor ihnen verließ ich meine Heimatstadt.
Leonard dagegen, Leonard geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Er war der Held all deiner tollsten Geschichten:
halb wahnsinnig, ein berühmter Liebhaber der Frauen, dessen Name in gewissen Kneipen noch immer ehrfürchtig genannt wird wegen heroischer Saufgelage, die drei Tage dauerten. Ich bin dem Mann nie begegnet, aber er geht mir einfach nicht aus dem Kopf.
Als der Montagmorgen kam, lag ich noch immer auf dem Sofa, Hals und Stirn mit roten Pusteln übersät, das ungelesene Buch geduldig wartend auf meinem Schoß. Manhattan ragte blassblau jenseits des Flusses auf, bis hinter mir die Sonne aufging, die nach Osten gehenden Fenster aufblitzen ließ. Du warst dort drüben, auf der überfüllten Insel, lagst schlafend in Leonards Bett. Ich kniff die Augen zusammen und blendete alles aus Beton und Stahl und Glas aus, ließ die Wassertanks und Fernsehantennen verschwinden, bis von der Stadt nichts anderes mehr zu sehen war als Kolonne um Kolonne von Schlafenden, in Pyjamas, in Boxershorts, in Nachthemden, nackt. Millionen von träumenden New Yorkern, die von treulosen Ehemännern und gesichtslosen Liebhabern träumten, einem Himmel, der dicke Mädchen regnen ließ, von Drachen, die sich im Kirchenschiff von St. John the Divine einnisteten. Und du, du träumtest mit ihnen weiter, von wer weiß was, zwanzig Stockwerke über der Avenue schwebend.
Schließlich schob ich mich von meinem gestreiften Sofa hoch, wankte in die Küche und begann die Bohnen für den Kaffee zu mahlen.
Während der Kaffee durchlief, griff ich zum Telefon und rief Michael an. Er ist immer schon vor sechs Uhr morgens in seinem Büro, um den Wirtschaftsteil von Zeitungen aus aller Welt zu lesen. Er nahm beim ersten Klingeln ab, und ich
erklärte ihm, dass ich mir am Abend seinen Wagen ausleihen müsse, um an einer Tagung an der SUNY in Binghamton teilzunehmen.
»Klingt aufregend«, sagte er. »Wie heißt das Thema?«
Ich betrachtete die leere Vorderseite meines Kühlschranks. Du hattest alle deine Magnete mitgenommen. »Es ist eine literarische Tagung.«
»Klar, aber sie muss doch ein Thema haben. Furzwitze der Buschmänner der Kalahari - so was in der Art?«
»Schön wär’s. Diesmal geht es um narrative Schilderungen der Sklaverei im postkolonialen Nord- und Mittelamerika.«
Er stieß einen Pfiff aus. »Bringst du da Pocahontas im Kofferraum mit zurück?«
»Dann ist es okay?«
»Wie kommt es, dass du erst heute von dieser Tagung erfahren hast?«
»Meine Mitfahrgelegenheit ist ausgefallen. Ich wollte eigentlich den Bus nehmen, aber …«
»Ist doch merkwürdig, dass sie die Tagung auf einen Dienstag gelegt haben, stimmt’s?«
»Stimmt«, sagte ich. »Äußerst merkwürdig.«
»Was ich nicht kapiere …«, begann er, aber ich unterbrach ihn.
»Pass auf, Michael, fall mir jetzt bitte nicht auf die Nerven.«
Ich spürte, dass er grinste, die Financial Times vor sich auf dem Schreibtisch ausgebreitet. »Geht klar«, sagte er. »Ich sage dem Mann in der Garage Bescheid, dass du kommst.«
Am Abend rief ich bei dir um die Ecke von einer Telefonzelle aus in deinem Apartment an; als du abnahmst, legte ich auf. Was ist bloß aus mir geworden?, sagte ich zu mir: ein Widerling, der seine Exfreundin anruft und
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