Alles auf Anfang
Augenbrauen, die nach oben wandern, wenn er sich vorbeugt, um einen Witz zu machen. Ich stellte ihn mir als einen langgliedrigen Napoleon vor, der an den Küsten von Elba einherstolziert, ein Kaiser im Exil.
Und ich stellte ihn mir betrunken vor. Du hattest mir erzählt, dass er morgens schon sein erstes Glas Whiskey kippte, noch bevor er seine Rühreier mit Blutwurst aß. Abgesehen von den legendären Saufgelagen trank Leonard jedoch fachmännisch, und er konnte eine erstaunliche Menge vertragen.
»Habe ich dir schon mal von Leonard und Gloria Steinem erzählt?«, fragtest du mich eines Abends, als wir im Bett lagen und ich deinen Bauch küsste. 1973 beschloss Leonard, mehr darüber zu erfahren, was die Feministinnen eigentlich wollten. Also ging er zu einem Vortrag, den Steinem in einem Saal in Chicago hielt. Während der ganzen Rede, über Gleichstellung am Arbeitsplatz, über die Forderung nach gesetzlich geregeltem Mutterschaftsurlaub, pichelte Leonard seine Flasche Old Grand-Dad, ohne sich um die wütenden Blicke der neben ihm sitzenden Frauen zu scheren. Schließlich stand er schwankend auf und ließ seine leere Flasche auf den Boden fallen. Sie kullerte geräuschvoll den Gang hinunter. Köpfe drehten sich nach ihm um.
»Sie sind eine bildschöne Frau«, verkündete er. Steinem zog ihre berühmten Augenbrauen hoch. »Sie sind eine bildschöne Frau«, wiederholte er, und das Publikum begann zu zischen. »Ich liebe Sie«, sagte er, das Zischen übertönend. »Ich liebe Sie, Miss Steinem.«
Wir kamen gut voran, erreichten das Städtchen Liberty vor acht. Im einzigen Geschäft, das offen hatte, einem verstaubten Kramladen, kaufte ich einen Apfel und ein Wing Ding und eine Cola und ließ mir von dem Mädchen an der Kasse den Weg zum Stausee beschreiben. Ihr Gesicht war voller kleiner roter Pickel, und ich lächelte sie an, deutete auf
meine eigene verunstaltete Haut und sagte: »Das feuchte Wetter, stimmt’s?« Sie sah mich nur finster an und drehte sich um.
Ich setzte mich auf die Motorhaube von Michaels Wagen und frühstückte. Ein starker Wind blies durch den Ort; Wachspapierbecher und Reklamezettel und Silberpapier tanzten die leere Straße hinunter, hüpften und drehten sich zu meiner Unterhaltung. Zurück im Wagen, inspizierte ich mein Gesicht im Kosmetikspiegel; meine Lippen waren mit Schokolade verschmiert. Genau das, was mein Teint jetzt braucht, dachte ich. Ich ließ den Motor an und stellte ihn sofort wieder ab. Ich ging zurück in den Laden und kaufte den schwersten Schokoriegel, den ich finden konnte. Ich merkte genau, dass die Kassiererin das für keine gute Idee hielt; sie zählte verdrossen mein Wechselgeld ab und schleuderte es mir in die Hand. Ich ging wieder zum Wagen, packte die Schokolade aus und verdrückte das ganze Ding in vier Bissen. »Scheiß drauf«, sagte ich und tätschelte Leonards Urne. »Stimmt’s?«
Die Wegbeschreibung der Kassiererin war sehr genau; fünfzehn Minuten später rumpelten wir über eine unbefestigte Straße, und ich wechselte zu einem Sender mit Countrymusic. Ich zuckte jedes Mal zusammen, wenn ein Stein gegen den Unterboden des Wagens spritzte. Wir überquerten eine kleine Anhöhe, und ich sah weiter vorn einen Maschendrahtzaun aus dem Gras aufragen, an dem in regelmäßigen Abständen schwarz-rote Schilder mit BETRETEN VERBOTEN hingen. Ich blickte auf Leonards Urne, erwartete irgendeine Reaktion, eine Art freudige Erregung angesichts dieser Heimkehr.
In das Sperrgebiet eines Stausees einzubrechen ist beunruhigend einfach. Der Maschendrahtzaun war nur knapp zweieinhalb Meter hoch, ohne Stacheldraht obendrauf. Keine Wachleute mit Dobermännern an der Leine machten am Rand ihre Runden. Keine Überwachungskameras. Keine Bewegungsmelder.
Ich steckte Moby Dick in den Hosenbund, schnallte Leonards Urne los und trug ihn hinüber zum Zaun. Mir fiel ein, dass der größte Teil des Mannes bereits freigesetzt worden war, dass von seinen neunzig Kilo Lebendgewicht nur knapp zwei geblieben waren, der Rest sich als Rauch durch den Kamin eines Krematoriums verflüchtigt hatte. Unser Körper besteht größtenteils aus Wasser, wie ich mich erinnerte. Das hier war die Essenz von Leonard, das Unverbrennbare, der Kern dieses Mannes.
Ich stand mit der Urne in beiden Händen vor dem Zaun. Über ihn zu klettern war sicher leicht, aber nicht, wenn ich dabei die Urne festhalten musste. Ein Sportler hätte es gekonnt, Michael hätte es gekonnt, aber nicht ich. Die Urne über den
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