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Alles auf Anfang

Alles auf Anfang

Titel: Alles auf Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benioff David
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Zaun zu werfen kam nicht infrage. Der springende Punkt dieses Unternehmens war, Leonard mit der ihm gebührenden Würde zu seiner erwählten Ruhestätte zu befördern. Womöglich wäre die Urne zerbrochen und Leonards Asche auf dem Gras zerstreut worden.
    Ich ließ mir das Problem einige Minuten durch den Kopf gehen, stellte die Urne dann vorsichtig am Zaun ab, ging hinüber zum Wagen und machte den Kofferraum auf. Und ich hatte Glück: Drinnen lagen zwei schwarze Gummiseile, die Michael benutzte, um sperrige Sachen auf dem Dach zu befestigen. Ich band mir die Urne auf den Rücken, indem ich
eines der Seile zweimal um mich herumwickelte und es vorne an der Taille festhakte. Ich war sehr stolz auf mein Improvisationstalent und blieb einen Moment stehen, die Hände in die Hüften gestemmt. Dann kletterte ich den Zaun hinauf. Ganz oben, als ich mich umdrehte und bereit machte, auf der anderen Seite hinunterzusteigen, löste sich die Urne und fiel auf die Erde. Ich kletterte schnell hinunter und riss sie an mich, schämte mich meiner Ungeschicktheit und untersuchte sie dann auf Schäden. Keinerlei Risse, nur ein Preisschildchen auf dem Boden. Töpferstube stand darauf, $ 29.95 .
    Ich konnte nicht begreifen, dass du das Preisschild auf Leonards Urne gelassen hattest. Doch dann schalt ich mich, weil das gemein war; du hattest die Urne wenige Tage nach dem Tod deines Vaters gekauft. Wie konnte ich erwarten, dass du da die gesellschaftlichen Gepflogenheiten beachtest? Ich kratzte das Schildchen mit dem Daumennagel ab und sah zu, wie der Wind es in den Wald wehte.
    Der Neversink selbst war eine Enttäuschung. Ich hatte einen gewaltigen künstlichen See erwartet, dessen anderes Ufer in der Ferne verschwamm, doch das eigentliche Staubecken war klein und nur halb voll, die unteren Stufen der betonierten Eindämmung dunkel gefärbt, wo sie vor Kurzem noch im Wasser lagen. Ich hatte das Gefühl, wenn alle Bürger der fünf Stadtbezirke von New York genau gleichzeitig die Toilettenspülung betätigten, dann würde sich der Neversink mit einem mächtigen und letzten Gurgeln durch seinen Abfluss entleeren.
    Die Eindämmung des Staubeckens bestand aus eineinhalb Meter hohen Stufen; ich sprang sieben hinunter, jedes Mal
überzeugt, dass ich mir den Knöchel zertrümmern würde. Doch mein Knöchel hielt, und ich erreichte die letzte Stufe, nach der die Betonwand zehn Meter senkrecht abstürzte, bevor sie im Wasser verschwand. Ich hatte den Wind im Rücken und beschloss, dass dies der richtige Ort war.
    Ich stellte die Urne auf die Stufe über mir, zog Moby Dick aus dem Hosenbund meiner Jeans und blätterte die mit Büroklammern gekennzeichneten Seiten durch auf der Suche nach Leonards Mantra. Da war es, hervorgehoben durch drei blaue Sterne. Ich räusperte mich und las. »Wohl gibt es Weisheit, die Leid ist; es gibt aber auch Leid, das Umnachtung ist. Und Seelen gibt es, darin horstet ein Bergadler, der taucht in die dunkelsten Schluchten und schwingt sich wieder empor, dass er dem Blick entschwindet im sonnigen All.«
    Ich blickte in das blaue Wasser unter mir. »Du kennst mich nicht, Leonard, aber ich habe viel von dir gehört. Ich wünschte, wir wären uns einmal begegnet; ich wünschte, ich hätte dir einen Drink spendieren können. Und ich weiß auch, dass du mich nicht hören kannst, ich weiß, dass du tot bist und so weiter, aber du sollst wissen, dass ich deine Tochter liebe. Ich wünschte, du wärst noch am Leben, damit ich dich um deinen Segen bitten könnte.«
    Ich klemmte das Buch wieder in meinen Hosenbund und versuchte, den Deckel der Urne aufzubekommen. Einen Moment lang fürchtete ich, er säße hoffnungslos fest, aber dann nahm ich den Wagenschlüssel zu Hilfe und schaffte es, ihn aufzustemmen. Ich schloss die Augen. Ich hatte gelesen, dass menschliche Asche selten reine Asche ist, dass sie mit Knöchelchen und Splittern des Schädels und feuergeschwärzten Resten des Femur vermischt ist wie ein Eimer
Sand mit Muscheln. Was ich in meinen Händen hielt, war ein Topf verbrannter Mensch. Die einzigen Geräusche, die ich hören konnte, waren der Wind, der gegen meinen Körper wehte, über das Wasser des Neversink wehte, und das leise Summen eines Motors irgendwo in der Ferne. Ich griff in die Urne, und meine Finger berührten Papier. Ich schlug die Augen auf. Ich schaute hinein - eine gelbe Papiertüte. Ich stellte das Tongefäß wieder auf der Stufe über mir ab und zog die Tüte heraus. Gold Medal Flour war auf dem gelben

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