Alles auf Anfang
neben mich, fuhrst mit dem Finger unter den Sätzen entlang. Der Brief war getippt und ohne Unterschrift. Der Teil, den ich las, lautete:
Wenn er nüchtern war, war er der höflichste Mann auf Erden, ein echter Gentleman. Er erinnerte sich an die Geburtstage und Jahrestage von allen und schickte immer Blumen, immer Chrysanthemen. Ein Kavalier der alten Schule, der Damen die Wagentür aufhielt, jedem einen Drink spendierte, wenn er bei Kasse war. Er war ein Heiliger, Ihr Vater. Er hätte die Münzen auf den Augen eines Toten gestohlen, aber er war ein Heiliger.
Du faltetest das Blatt ordentlich zusammen und legtest es zurück in die Schreibtischschublade. »Wenn ich dir sagen würde, wer das geschrieben hat, würdest du es mir nicht glauben.«o
»Natürlich würde ich es dir glauben.« Ich presste die Augen zusammen und versuchte, einen weiteren Niesanfall zu unterdrücken.
Du nahmst ein Buch von der Schreibtischplatte und reichtest es mir, nahmst mir dafür die Teetassen ab und stelltest sie auf den Nachttisch aus Korb. »Das hatte er im Krankenhaus
neben seinem Bett liegen. Er las jeden Tag darin. Ganz am Ende, als er blind wurde, las ich ihm daraus vor.«
Ich hielt den zerfledderten blauen Band in meinen Händen, die Seiten vom vielen Umblättern abgegriffen, auf den Rändern das blaue Gekritzel einer unleserlichen Handschrift, Büroklammern, die die wichtigsten Passagen markierten.
» Moby Dick? Ich hätte bei ihm eher Unterwegs erwartet.«
Du schütteltest heftig den Kopf. »Für ihn war Kerouac ein Schwindler. Aber Moby Dick, mein Gott, dieses Buch liebte er. Eine Stelle kannte er sogar auswendig …« Du nahmst mir das Buch ab und blättertest darin. »Hier«, sagtest du, deutetest auf zwei mit blauer Tinte eingerahmte Sätze, daneben auf dem Rand drei blaue Sterne.
Ich beugte mich vor, um die Zeilen zu lesen, und musste lächeln. »Das war auch die Lieblingsstelle meines Professors.«
»Leonard sprach sie immer vor sich hin. Immer und immer wieder. Er verließ die Catskills, als er sechzehn war, und kehrte nie zurück, aber er war und blieb ein Junge aus den Bergen. Und dieses Zitat«, sagtest du, mit dem unlackierten Fingernagel auf die gedruckten Worte klopfend, »das war sozusagen sein Mantra.«
»Es ist wunderschön«, sagte ich. Ich musste wieder niesen.
Du nicktest, fuhrst mit dem Finger der blauen Tintenrille nach. »Ich möchte, dass du es hast.«
»Aber …«
»Nimm es, Frankie. Vielleicht hältst du irgendwann mal eine Vorlesung über Melville und kannst Leonards Notizen verwenden.«
Ich wollte dir sagen, dass mein Gebiet die englische Literatur war, sechzehntes und siebzehntes Jahrhundert, dass ich
nie eine Vorlesung über Moby Dick halten würde, dass ich, was noch viel wichtiger war, ein so großes Geschenk nicht verdient hatte, aber du hattest das Bett bereits verlassen. Du knietest dich neben eine blaue Obstkiste, in der Schallplattenhüllen aufgeschichtet waren.
»Hier ist er«, sagtest du zu mir, die Hand auf einem bauchigen schwarzen Tongefäß mit Messingdeckel, das auf dem Verstärker der Stereoanlage stand.
Ich machte den Mund auf und dann wieder zu. Ich sah hinüber zu den Katzen, die mich beide anstarrten, der schielende Luther mit zuckendem Schwanz. Ich sah wieder zu dir und dem schwarzen Tongefäß und sagte: »Leonard?«
»M-hm. Das ist eigentlich keine offizielle Urne. Aber ich fand, dass eine echte Urne morbid aussehen würde.«
Ich wette, dass manche Leute es morbid finden würden, ihren Alten Herrn in einem schwarzen Tongefäß auf dem Verstärker stehen zu haben, aber das sagte ich nicht. Stattdessen sagte ich: »Wolltest du ihn nicht in einen Stausee schütten?«
»Ja, in den Neversink. Aber die Behörden haben es nun mal nicht gern, wenn die Leute die Asche ihrer Daddys ins Trinkwasser kippen. Leonard war der Gesetzesbrecher, nicht ich.«
Zwei Tage später teiltest du mir mit, dass ich dein fester Freund sei, und zum Beweis schliefen wir miteinander. Leonards Bett war mit schwarzen Katzenhaaren übersät, und ich bekam am ganzen Körper einen Nesselausschlag. Meine Augen waren so zugeschwollen, dass ich kaum sehen konnte. Beide Nasenlöcher waren komplett verstopft; ich lag nach Atem ringend auf dem Rücken, während Luther und die andere
Katze, deren Namen ich nie erfuhr, auf dem Fensterbrett saßen und mich anstarrten.
»Vielleicht sollten wir zu dir gehen«, schlugst du vor.
»Wenn du meinst«, sagte ich.
Es endete damit, dass du dich wegen der
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