Alles auf dem Rasen
festzustellen, dass es uns so schlecht nicht geht. An klappernden Skateboards, Autowaschen am Sonntag und Taubenfüttern ist jedenfalls noch niemand gestorben.
2003
Ersatzteilkasten
A ls »es« geschah, wäre man am liebsten in die Garage gegangen, um die dort für Katastrophenfälle aufbewahrte, unabgenutzte Ersatzsprache herauszuholen und sie der Diskursmaschine unterzuschnallen, bevor diese sich schlingernd in Gang setzte und ins Rollen geriet. Wie ist es, dieses Attentat in New York, »grausam«, »fürchterlich«? So wie die Frisur der Nachbarin, so wie das Wetter? Und wir, sind wir »fassungslos«? Sprachlos sind wir, ohne Worte. Irgendwie haben wir es versäumt, uns eine Zweitsprache zuzulegen. Am besten schien es deshalb zu schweigen, und das nicht nur in staatlich verordneten Minuten, sondern auch in den vielen Stunden ungezügelter Verbalisierung von Berichterstatteremotionen.
Sei’s drum. Um über mögliche oder nötige Konsequenzen der Ereignisse zu reden, braucht man keine Ersatzsprache. Hier fehlt es, weitaus schlimmer, an einem Ersatzhandlungskonzept. Seit Wochen werden wir nicht müde, es uns selbst zu versichern: So etwas ist noch nicht da gewesen. Altbekannte Kategorien versagen. Die Spaßgesellschaft ist nun mit Sicherheit vorbei und die gerade gültige Kulturepoche zu Ende. Weltbilder und Weltordnungen lassen sich ebenso schnell einklappen und verstauen wie Campingmöbel. Jetzt wird sich alles ändern, und Plan B ist nicht in Sicht. In einer solchen Situation ist es wohl am besten, für oder gegen die Amerikaner zu sein. Die wissen wenigstens immer, was als Nächstes zu tun ist.
Aber was genau ist eigentlich noch nie da gewesen? Hatten wir nicht vor einigen Jahren einen Krieg auf dem Balkan, der unter religiöser Flagge geführt wurde und über dreihunderttausend Opfer forderte? Gab es dort nicht ebenfalls eine zum personifizierten Bösen hochstilisierte Führerfigur, Slobodan Milošević, um den sich eine Gruppe Fanatiker, »die Serben«, scharte, während die Muslime in diesem Fall die Opferrolle einnahmen? Ist es nicht immer ein Angriff auf die westliche Zivilisation, wenn Unmengen unschuldiger Menschen grundlos zu Tode kommen, oder ist das eine Frage der Geographie?
Der Katastrophe auf dem Balkan wurde mehr oder weniger entlang der Prinzipien des Völkerrechts begegnet, welche uns den Verzicht auf Gewalt als Mittel der Politik auferlegen und den oft genug schmerzhaften Versuch friedlicher Konfliktlösung in den Vordergrund stellen. Im Verlauf des bosnischen Bürgerkriegs wurde die Einhaltung von international-rechtlichen Regeln als Versagen der westlichen Welt wahrgenommen. Es hieß, die internationale Gemeinschaft sei auf die neuen Erscheinungsformen von Gewalt seit Ende des Kalten Kriegs nicht vorbereitet. Solche Vorwürfe wurden immer laut, wenn es um die »Blockierung« internationaler Institutionen und der in ihnen repräsentierten Staaten ging, wenn also ein (militärisches) Eingreifen aus rechtlichen Gründen undurchführbar blieb.
Jene völkerrechtlichen Normen, die zum Beispiel durch Verlangen von Einstimmigkeit im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu einer solchen »Blockade« führen können, sind zu Friedenszeiten für den Konfliktfall formuliert. Ihre Erschaffung trägt der Erkenntnis Rechnung, dass in einer akuten Krisensituation von gegnerischen Parteien niemals eine übereinstimmende Definition und Ausdeutung des Gerechtigkeitsbegriffs getroffen werden kann und dass politisches Handeln, auf internationaler Ebene im Besonderen, niemals frei von Interessen ist, welche nicht das Wohl der Konfliktparteien im Auge haben. Sofern die Anwendung internationaler Regeln zu dem Ergebnis führt, dass das Einschreiten mit Kriegsmitteln rechtswidrig wäre, ist das nicht unbedingt eine Blockade, sondern möglicherweise beabsichtigte Konsequenz einer langfristig angelegten Einschätzung, die den Erhalt des Weltfriedens einem von den Konfliktseiten noch so dringend empfundenen Handlungsbedürfnis voranstellt. Kurz gesagt: Es ging bei der Errichtung der Nachkriegsordnung um die Vermeidung eines Super-GAUS. Keiner der vielen involvierten Politiker und Kommentatoren konnte bislang erklären, warum dieses Ziel obsolet geworden sein soll.
Im Fall des Terroranschlags auf die USA kann man vom Vorliegen eines Rechts zur Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta ausgehen, das auch die rechtliche Grundlage für Artikel 5 des Nordatlantikvertrags bildet. Problematisch bleibt, dass
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