Alles auf dem Rasen
eine Anwendung von Gewalt zur Selbstverteidigung nur dann gerechtfertigt erscheinen kann, wenn sie sich gegen den Aggressor richtet. Die zitierten Artikel sind für den Fall eines kriegerischen Angriffs zwischen Staaten gedacht; die Frage nach der Ermittlung des Angreifers stellt sich bei Vorliegen einer Kriegserklärung nicht. Wenn nun Afghanistan zum Ziel eines militärischen NATO-Einsatzes werden soll, muss dieses Land zuvor als Aggressor identifiziert werden. Nicht einmal die eindeutige Feststellung der Täterschaft Bin Ladens könnte dies ohne Herstellung eines Zurechnungszusammenhangs leisten.
Angesichts der gegenwärtigen Vergeltungs- und Solidaritätsrhetorik hört sich solche juristische Kleinkrämerei geradezu vorgestrig an. Sie ist aber Ausdruck einer Disziplin, in der man nicht nur in Deutschland als prädestiniertem Schlachtfeld zwischen Supermächten wohltrainiert sein sollte: im Angst-vor-dem-dritten-Weltkrieg-Haben, in der Angst auch vor Anarchie in den internationalen Beziehungen und einer Weltordnung, in der allein das Recht des Stärkeren regiert. Die völkerrechtlichen Bedenken in diesem Fall sind nicht zuletzt Ausdruck der Vermutung, dass es mit einem Etat von 20 Milliarden Dollar möglich sein müsste, in einem Land wie Afghanistan auf andere Weise zum gewünschten Ergebnis zu kommen. Die Allokation von Ressourcen, wie sie zur Führung eines Kriegs notwendig ist, kann auch auf einen wirtschaftlichen und politischen Umsturz der nationalen Verhältnisse gerichtet werden, der zu einer Beseitigung der Taliban-Regierung nicht nur auch, sondern besser geeignet wäre und darüber hinaus vorteilhafte Nebenwirkungen für die Bevölkerung des Landes hätte. In einem funktionierenden Staat mit effizienten Institutionen können Verbrecher verfolgt und einem quälend langsamen, quälend demokratischen gerichtlichen Prozess zugeführt werden. Es gibt mildere Mittel als den Beginn eines Kriegs. Bei Abwägung der Alternativen darf nicht vergessen werden, dass die Legitimität des NATO-Kriegs gegen Serbien nicht nur a priori im Licht völkerrechtlicher Regelungen, sondern auch a posteriori im Licht der Erfolgsbilanz zweifelhaft bleibt.
Wenn am 11. September diese Kategorien – seit dem Zweiten Weltkrieg Ausdruck unserer zivilisierten Kultur, die wir uns jetzt zu verteidigen anschicken – paradoxerweise ihre Gültigkeit verloren haben, wenn der Anschlag auf das World Trade Center eine neue weltpolitische Epoche einläutet, sollten wir ehrlich genug sein, uns von der alten offen zu verabschieden. Dann brauchen wir nicht nur eine Ersatzsprache, nicht nur ein Ersatzhandlungskonzept, sondern auch eine Ersatzweltordnung. Und zwar schnell.
2001
Es knallt im Kosovo
I m Kosovo knallt es wieder! – Inzwischen nimmt jeder routinierte Medienkonsument diese Nachricht mit einem überdrüssigen Achselzucken hin: Wen wundert’s! Da knallt es doch seit Jahrhunderten. So ist das halt auf dem Balkan.
Wem könnte man eine solche Reaktion verdenken? Seit Ausbruch des Bürgerkriegs im zerfallenden Jugoslawien vor zwölf Jahren hören wir Unverständliches, Verwickeltes, ja, Kryptisches aus der »ersten europäischen Kriegsregion seit 1945«. Wir beobachten Analysen und Berichterstattung über ein Durcheinander, das extra und ausschließlich für Experten geschaffen scheint. Wir erfahren von internationalen Einsätzen, Missionen, Tribunalen und nation building und sehen am Ende: alles vergeblich. Es knallt.
Eigentlich ist nicht schwer zu verstehen, worum es im Kosovo geht. Die Albaner wollen fünf Jahre nach dem NATO-Einsatz noch immer die Sezession des von ihnen bewohnten Gebiets, sie wollen ein autonomes Kosovo – siehe Baskenland, Nordirland, Kurdistan, Quebec. Dennoch hinterlässt die Frage, warum es erneut zu einem Gewaltausbruch kommen musste, eine Rat- und Hilflosigkeit, die für die gesamte Behandlung der Balkankrise prägend war. Um sich einem Verständnis für die Gründe der Unruhen vom 17. und 18. März 2004 anzunähern, ist es unvermeidlich, sich ein paar simplen und gerade deshalb schmerzhaften Erkenntnissen zu stellen.
In Ex-Jugoslawien tobte ein Bürgerkrieg. In einem solchen fügen Menschen einander Schreckliches zu, sie traumatisieren sich gegenseitig, entwickeln Ängste, aus denen Hass folgt, und Rachegefühle, die sich nicht mehr gegen Individuen, sondern gegen Gruppen richten. Sie bauen Feindbilder auf, leiden unter Schuldkomplexen oder übertriebenem Selbstmitleid, sie denken plötzlich in
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