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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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schwarz-weiß und sind bereit, jeder polarisierenden Strömung zu folgen, sei es Religion, ethnische Zugehörigkeit oder politische Ideologie, um die »richtige« Seite zu finden, auf der sie sicherer sind als zwischen den Fronten.
    Die entstandene Gemengelage aus vielschichtigen, explosiven Emotionen bleibt als Altlast nach Beendigung der militärischen Ausschreitungen zurück und verseucht das ganze Gebiet. Anders als nach zwischenstaatlichen Konflikten sind die Parteien gezwungen, ihre Städte, Straßen, Schulen, ihre Kanalisation und ihr Schwimmbad, kurz: das ganze Leben mit den ehemaligen Gegnern zu teilen. Nichts ist leichter, als diesen Spannungszustand für beliebige Zwecke zu instrumentalisieren. Gleichgültig, ob ein Politiker persönliche Machtinteressen verfolgt, ob ein Glaubensführer neue Schäfchen braucht, ein Radiosender um Zuhörer wirbt oder ein randalierender Halbstarker Hassobjekte sucht, an denen er seine Aggressionen auslassen kann – in der beschriebenen Situation ist für jeden etwas dabei. Selbst aus Alltäglich-Menschlichem kann leicht eine Katastrophe entstehen. Vor etwa zwei Jahren hörte ich von einer jungen albanischen Kosovarin, die in der geteilten Stadt Mitrovica ungewollt von ihrem Freund geschwängert wurde. Aus Angst vor dem strengen Vater, der sie wegen des Fehltritts aus dem Haus gewiesen hätte, erzählte sie in der Stadt herum, ein Serbe habe sie vergewaltigt. Die Angelegenheit wurde sogleich zum Politikum; nicht viel fehlte, und es wäre zu Auseinandersetzungen zwischen den gereizten Volksgruppen gekommen. Glücklicherweise widerrief das Mädchen ihre Behauptung im letzten Moment. Auch im unglücklichen Fall der vergangenen Woche war es ein tragisches, aber unpolitisches Ereignis, nämlich ein Unfall albanischer Kinder im Fluss, das als Anlass für sinnlose Gewalttätigkeit herhalten musste.
    Wenn man hinzudenkt, dass die ex-jugoslawischen Staaten schon vor Beginn eines politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozesses, der auch in anderen ex-kommunistischen Ländern für erhebliche Probleme sorgt, von einem anarchisch anmutenden Krieg ergriffen und nach Ende desselben in ein institutionelles Vakuum entlassen wurden, kommt man zur ersten traurig-frohen Erkenntnis: Trotz der furchtbaren jüngsten Ereignisse im Kosovo haben wir immer noch Anlass zur Freude darüber, dass das Zusammenleben auf dem Balkan schon wenige Jahre nach den Kriegen im Ganzen so friedlich verläuft.
    Bürgerkriegsregionen können schwerlich befriedet werden. Wer soll in einem innerstaatlichen Konflikt Sieger, wer Verlierer sein? Wie soll man Konflikte lösen, ohne zwischen Tätern und Opfern unterscheiden zu können? Ist jemals ein Krieg durch Kompromisse beendet worden?
    Da es kein militärisch-salomonisches Verhalten gibt, hat die internationale Gemeinschaft in den Bosnienkriegen sowie im Kosovokonflikt die Rollen der Guten und der Bösen verteilt, um in die Auseinandersetzung eingreifen zu können. »Böse« waren die Serben; alle anderen galten als Opfer und damit mehr oder weniger als »gut«. So verständlich dieses Vorgehen sein mag, so unangenehm sind die bis heute spürbaren Auswirkungen. Im Kosovo sind die Serben in der schwachen Minderheit und erheben nun – möglicherweise in Teilen zu Recht – den Vorwurf, dass systematische Übergriffe von Albanern auf ihre Bevölkerungsgruppe nicht stattgefunden hätten, wenn diese nicht moralische und praktische Rückendeckung von KFOR (NATO-Truppe) und UNMIK (internationale Zivilverwaltung) erhalten würden. Die Unterteilung in Schuldige und Opfer wird sich nicht mehr rückgängig machen lassen; sie wird beim Ausfechten jedes beliebigen politischen Interessenkonflikts ins Feld geführt werden und noch den Streit um eine zerbrochene Fensterscheibe zu einem Problem ausweiten, welches das ganze Land betrifft. Die Politisierung des Alltäglichen und die Dramatisierung der Politik ist eine kaum zu vermeidende Folge eines gewaltsam beendeten Bürgerkriegs. Das internationale Eingreifen in eine militärische Auseinandersetzung führt vielleicht zum Friedensschluss, nicht aber zur Aussöhnung. Manchmal sogar zum Gegenteil.
    Daraus folgt eine weitere, häufig vertuschte Wahrheit: Die Fähigkeiten der internationalen Gemeinschaft zur Lösung innerstaatlicher Konflikte sind äußerst begrenzt. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen zwar, dass Menschen in demokratischen, wirtschaftlich prosperierenden Gesellschaftssystemen eher gewaltlos

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