Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition)
Ich habe nie Kopfschmerzen gehabt, geschweige denn Migräne. Vielleicht habe ich darum so depressiv reagiert. Ich war nicht geübt. Man hatte mich gelehrt, wie man gesund lebt, aber nicht, wie man mit Krankheit umgeht.
Was ich erst mal richtig lernen musste, war Nein zu sagen. »Nein, kommt heute besser nicht vorbei. Bitte hört auf, mir die Leidensgeschichte anderer zu servieren, ich ertrage das nicht! Und verschont mich vor Bioaposteln und Propheten, die mir Heilung versprechen und die neueste Diät oder das beste Pülverchen diskret vermitteln.« Ich weiß, dass sie es alle gut gemeint haben. Aber ich musste lernen, einfach wegzuhören, wenn Hobbymediziner mir was von »Schüben« erzählen wollten. Nein, Schübe gibt es bei MS . Und dass die Oma auch Alzheimer habe und man jetzt schon mit Hirnschrittmachern arbeiten würde und die Story, wo Parkis die Alpen mit Fahrrädern überquert haben. Jeder weiß was, jeder hat was im Radio gehört, im Fernsehen gesehen oder in der Apothekenzeitschrift gelesen. Irgendwann wusste ich, dass ich mich schützen musste vor allzu vielen gut meinenden Ratgebern.
Gerade weil es jeder gut meint, nehme ich mir öfter die Freiheit, Berichte über dramatische Schicksale und Krankheitsverläufe charmant und unmissverständlich zu beenden. Sonst beliefere ich die Horrorfilmfabrik in meinem Kopf mit Drehbüchern, die mir nicht guttun und die keiner braucht.
9.
Musik als Heilmittel
Wovon lebe ich in einer Phase der Schwermut, wenn ich selbst zum Beten keine Kraft habe und mir alle frommen Sprüche im Hals stecken bleiben, weil Herr P. so viel Macht über mich gewonnen hat?
Ich konnte kaum etwas lesen, Fernsehen war noch langweiliger als sonst. Moderne Musik wurde mir bis auf einige Ausnahmen fremd. Obwohl ich Rock, Pop, Gospel und Soul normalerweise sehr liebe, erreichten diese Töne und Texte mein Herz nicht mehr. Auch die meisten neuen geistlichen Lieder reichten nicht bis auf den Grund meiner Verzweiflung.
Es waren die Passionen und Oratorien von Johann Sebastian Bach, die mich tief getröstet haben. Die Johannes-Passion habe ich tagelang rauf und runter gehört. Obwohl mich diese Musik ziemlich aufwühlte und ich ständig tränengeflutet war, bin ich unter dem Einfluss des »fünften Evangelisten« zur Ruhe gekommen.
Ich fand die Geborgenheit nicht in flüchtigen Dingen, nicht in seichten Modeerscheinungen, sondern in vertrauten liturgischen Ritualen, die wir seit Jahren in unserer Familie pflegten.
Als experimentierfreudiger und innovativer Unternehmertyp bin ich für alles Neue offen. Etablierte Formen, Riten und Traditionen habe ich grundsätzlich skeptisch hinterfragt. Bis ich merkte, dass ich mich von meinen Wurzeln löse und den Fixpunkt für meine Lebensplanung verliere. So entwickelten sich neue Leitmotive, zum Beispiel diese:
Tolerant kann nur sein, wer einen festen Standpunkt hat.
Experimentieren kann nur, wer sich in seinem Labor auskennt.
Modern kann nur sein, wer seine Herkunft zu schätzen weiß.
Brich mit keiner Tradition, bevor du nicht eine neue geschaffen hast.
Wer das Bewährte missachtet, wird im Neuen scheitern.
Ohne Bindung an Werte wird aus Freiheit Haltlosigkeit.
Ich war in meinem umtriebigen Leben wieder neu heimisch geworden in Ritualen und Traditionen. Vielleicht war das unbewusst bereits eine Vorbereitung auf die Begegnung mit Herrn P.?
So haben wir in der Familie begonnen, feierliche spirituelle Rituale einzurichten, die inzwischen eine gute Tradition geworden sind. Wir zelebrieren den Zyklus des Kirchenjahres mit geistlicher Musik.
So feiern wir zum Beispiel den Abschluss des Kirchenjahres am Ewigkeitssonntag, dem Sonntag vor dem ersten Advent, seit vielen Jahren immer mit dem »Deutschen Requiem« von Johannes Brahms. Beim Titel »Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth«, gedenken wir der Menschen, die im zurückliegenden Kirchenjahr von Gott aus dem Vergänglichen in das Ewige berufen wurden. Und dann, wenn die Sonne untergegangen ist, steigt alle Jahre wieder die Spannung. Dann legen wir den Eingangschoral des Weihnachtsoratoriums zur Eröffnung des neuen Kirchenjahres auf, vorzugsweise in einer Lautstärke, die auch die Nachbarn erreichen soll. An Lautsprecherboxen habe ich nie gespart. Ich mag Musik nur, wenn sie laut ist. Das gilt für Bach genauso wie für Grönemeyer.
»Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage,
rühmet, was heute der Höchste getan.
Lasset das Zagen, verbannet die Klage,
stimmet voll Jauchzen und
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