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Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition)

Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition)

Titel: Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Mette
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Berufung treu. Ich trage dieses Bild als ständigen Ermutiger in mir, damit die Resignation nicht die Oberhand gewinnt.
    In der Zwischenzeit musste ich zu einer Sitzung in die Schweiz. Dieses Vorstandsamt machte mir viele Jahre Freude, aber es kostete mich auch viel Kraft. Der Sitzungsverlauf an diesem Tag war ziemlich heftig. Ich spürte die Spannung körperlich. Auf der Weiterfahrt zu einem Termin in Luzern war ich so aufgewühlt, dass ich in den Tunneln durch das Juragebirge von Zitterattacken gepackt wurde. In diesem verzweifelten Zustand beschloss ich, konsequent meine diversen Gremienarbeiten zu reduzieren. Wenige Tage später erklärte ich meinen Rücktritt als Vorstandsmitglied. Es sollten weitere solcher Entscheidungen folgen, damit ich noch lange meiner eigentlichen Berufung nachkommen kann.
    In Luzern angekommen, übernachteten meine Frau und ich bei Freunden, die hoch über dem malerischen Vierwaldstätter See ein wunderschönes Haus besitzen. In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Herr P. hatte an der Muskelsteuerung so lange manipuliert, bis ich am ganzen Körper bebte. Vergeblich verkeilte ich meine Beine in der Matratzenritze, um endlich Ruhe zu finden. Meine Frau mühte sich tapfer, mich von der aufkommenden Panik und den depressiven Gedanken abzulenken.
    Am nächsten Tag sollte ich in der Kirchengemeinde meiner Freunde predigen. Vor dem Gottesdienst waren die Gemeindeältesten im Büro des Pastors versammelt. Sie nahmen mich in ihre Mitte und beteten für mich. Doch mir sackten die Beine weg. In Panik umrundete ich vor der Predigt noch einmal das Gemeindezentrum, machte Atemübungen, schrie innerlich zu Gott und fragte, warum er mir das antue. Zum ersten Mal war ich nicht in der Lage freihändig zu predigen. Ich musste um einen stabilen Bistrotisch bitten, und für alle Fälle stand ein Hocker in Reichweite.
    Es war mir, als hätte mich Herr P. in meiner ganzen Erbärmlichkeit vorgeführt. Überraschenderweise konnte ich die Predigt relativ entspannt halten. Ganz so, als würde der andere Herr meines Lebens Herrn P. vorübergehend entmachten, sodass ich meine Berufung erfüllen konnte. Mein Neurologe hatte mich ja geradezu medizinisch re-ordiniert. Ich hätte ihn vor lauter Freude am liebsten gleich nach dem Gottesdienst angerufen.
    Am nächsten Tag waren wir im Kanton Zug zu Gesprächen mit einer Partnerorganisation. Auch dort erlebte ich eine furchtbare Nacht. Und am nächsten Morgen sagte ich in der Sitzung zum ersten Mal: »Ich habe Parkinson!« Es war an der Zeit, die Wahrheit zu sagen.
    Genau drei Jahre später – im Mai 2012 – bin ich wieder zu Verhandlungen und Vorträgen dort. In der Nacht beginne ich dieses Kapitel zu verfassen. Genau an dem Ort, wo vor drei Jahren der Absturz in die Depression seinen Anfang nahm.
    »Die Wahrheit wird euch frei machen!« (Johannes 8,32) , hat Jesus gesagt. Wir erleben so viel Lüge und Täuschung, solch ein frivoles Frisieren der Tatsachen, dass die Zeit reif wird für eine neue Wahrhaftigkeits-Offensive. Wann leben wir endlich die Würde dieser Freiheit untereinander, indem wir wahrhaftig miteinander kommunizieren? Ich hatte mich der Wahrheit gestellt, die Flucht war zu Ende.

7.
Sich der Wahrheit stellen – das ist Freiheit
    Mit wem und vor allen Dingen wie rede ich über meinen neurologischen Befund?
    Mit meiner Familie, den Verwandten und engen Freunden, aber dann auch vorrangig mit meinem beruflichen Netzwerk. Ich wollte meinen Vorstandskollegen, meinem Aufsichtsrat und meinen Mitarbeitern in völliger Offenheit begegnen. Schließlich hatten die ja in unserem transparenten Medienhaus täglich gesehen, wie ich morgens die Freitreppe hochgeschlichen war. Jeden Tag ein wenig langsamer. Bei vielen Führungen durch das architektonisch bemerkenswerte Gebäude hatte ich diese frei stehende Treppe als die Kommunikationsachse des Hauses bezeichnet, weil man von der Treppe aus nahezu alle Arbeitsplätze des Hauses sehen kann. Nun wurde ich zum leibhaftigen Beweis eines transparenten Arbeitsplatzes. Die zunehmenden Veränderungen meiner Bewegungsabläufe waren für das ganze Team sichtbar. Ich fühlte mich beobachtet. Und ich fühlte die besorgte Anteilnahme meiner Kolleginnen und Kollegen. Keiner sprach mich darauf an, aber die ungewöhnlich frühe Gebrechlichkeit war nicht mehr zu verbergen. Parkinson lässt sich nicht verstecken.
    Einer meiner beiden Vorstandskollegen hatte gerade im Medienhaus zu tun. Ich bat ihn in mein Büro und eröffnete ihm die

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