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Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition)

Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition)

Titel: Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Mette
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wird auch in den Stunden der Anfechtung nicht ungetröstet bleiben.
    Irgendwann in einer schlaflosen Nacht entdeckte ich auf einem christlichen TV -Kanal das Harmony-Quartett. Intonationssicherer und herzbewegend dichter A-cappella-Gesang mit einem der besten und tiefsten Vocal-Bassisten unserer Zeit. Eine kräftige Ladung Trost im satten Sound großartiger Männerstimmen. Das ist Musik, die aus der Tiefe zieht.
    Und ausgerechnet Herbert Grönemeyers »Halt mich« oder neuerdings »Deine Zeit« von der Produktion »Schiffsverkehr« haben mich auf ganz eigene Weise durch die trüben Wochen getragen.
    Die bewährten Klassiker geistlicher Musik müssen parat sein, wenn es knüppeldick kommt. Diese Kostbarkeiten müssen wir aufbewahren und beleben. Nicht nur in der alten Fassung konservieren, sondern unter Beibehaltung des Originaltextes musikalisch auf der Höhe der Zeit interpretieren. Damit erleichtern wir der jungen Generation den Zugang zu den Schätzen geistlicher Musik und wir selbst finden Halt in angefochtenen Lebensphasen.
    Die jüdische Schriftstellerin Nelly Sachs schrieb 1949 über König David, den größten Liedermacher aller Zeiten:
    »Aber im Mannesjahr maß er, der Vater der Dichter, in Verzweiflung die Entfernung zu Gott aus, und baute in Psalmen Nachtherbergen für die Wegwunden.« 8
    Glauben heißt, in Verzweiflung die Entfernung zu Gott ausmessen und klagend, betend, schweigend, singend und seufzend Nachtherbergen bauen, in denen unser verletztes Gemüt zur Ruhe kommt und den anbrechenden Tag erwartet.
    6 J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, BWV 248
    7 CD »Paul Gerhardt – Breit aus die Flügel beide«, Werner Hoffmann und Werner Hucks, Felsenfest, Wesel, 2006
    8 Nelly Sachs, »David« in: Werke. Band I: Gedichte 1940–1950 , Suhrkamp, Berlin, 2010

10.
Lächerliches und Deprimierendes
    Nachdem mir mal wieder jemand von seinem Opa berichtet hatte, der auch an Parkinson litt, wunderte er sich, dass ich ja »noch« Fahrrad fahren könne. Dann fragte er ziemlich hemdsärmelig, was denn bei mir »noch« alles so gehen würde. Da schoss es schlagfertig aus mir heraus: »Alles außer Mikado!« Er stutzte, weil er diese kleine Frechheit nicht begriffen hatte, aber ich wusste, dass ich damit den Titel meines Buches gefunden hatte – sollte ich jemals ein Buch über das Leben mit Parkinson zustande bringen. Bei allem, was »noch« geht: Mikado spielen geht nicht mehr! Das Spiel braucht eine absolut ruhige Hand. Am nächsten Tag bat ich einen unserer Redakteure um die Reservierung dieses Titels.
    Was könnte man noch auf die Frage »Wie geht’s?« antworten? Bei James Bond hieß es »geschüttelt – nicht gerührt«. Das Parkinsonmotto lautet »geschüttelt und gerührt«! Wenn ich einen meiner alten Freunde treffe, der an Diabetes leidet, dann grüße ich ihn mit »Denk dran, Diabetes ist kein Zuckerschlecken!« Oder wenn ich an den alten Kriegsversehrten aus meiner nordhessischen Heimat denke, den Einarmigen, der als treuer Küster jeden Sonntag die Gäste an der Kirchentür begrüßte, dann stelle ich es mir sehr witzig vor, ihn im Secondhandshop zu treffen. In Gottesdiensten mit überwiegend älteren, kardiologisch gefährdeten Herrschaften lasse ich grundsätzlich nie »Geh aus mein Herz« singen, noch nicht mal in »dieser schönen Sommerzeit«. Humor hat Heilkraft!
    Kürzlich referierte ich bei einer Tagung im Schwarzwald, die aus Platzgründen in ein großes Festzelt verlegt worden war. Das Rednerpult stand auf einer improvisierten Bühne, Holztafeln auf Gerüstböcken, die auf der unebenen Grasfläche standen. Die ersten fünf Minuten plagte mich Tremor – der Zittermann – so heftig, dass das Pult mitsamt der Bühne bebte. Ich forderte das bibelfeste Auditorium auf, in Apostelgeschichte 4,31 nachzulesen: »Es erbebte die Stätte, auf der sie sich versammelt hatten.« Entspanntes Gelächter, danach ging es besser.
    Die gut gemeinten »noch«-Fragen sind es, die mich zunehmend deprimieren. »Ach, Sie sind allein mit dem Auto gekommen? Dürfen Sie denn noch selber fahren?« »Können Sie noch Treppen steigen oder wollen Sie den Lift nehmen?« »Dürfen Sie denn noch alles essen?« – Ja, ich darf. Sieht man das nicht? »Können Sie denn noch predigen?« – Ja, ich kann. Noch. Wenn man die 40 überschritten hat, steht alles im Leben unter dem »Noch«. Ich fühle kindischen Trotz in mir aufsteigen. Sehen die mich denn alle schon im Siechenhaus? Hätte ich meine Erkrankung doch besser geheim

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