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Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition)

Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition)

Titel: Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Mette
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unser einmaliges und kostbares Leben erteilt?

15.
Zweifelhaftes und Glaubhaftes
    Ich schreibe dieses Kapitel während der Fußball-Europameisterschaft 2012. Unsere so hoffungsvolle Truppe ist im Halbfinale gegen Italien ausgeschieden. Als das 2:0 fiel, bin ich auf die Terrasse gegangen und hab frustriert in den beleuchteten Springbrunnen gestarrt. Ich wollte mir das Elend nicht mehr antun. Beim Elfmetertor kurz vor dem Abpfiff hat die Nachbarschaft nur noch verhalten gebrüllt. Ich bin dann wieder ins Haus vor den Fernseher gezogen, wo meine frustrierte Liebste den Niedergang ziemlich lustlos verfolgte. Als Thomas Müller mit dem Trikot über dem Kopf in Tränen ausbrach, hab ich die Deutschlandfahne eingepackt. Sie kommt bei der WM 2014 wieder zum Einsatz.
    Was hat das mit meiner Parkinsongeschichte zu tun? Viel! Das Leben ist kein Ponyhof und auch kein Mikadospiel, aber es gleicht vielleicht einem Fußballspiel. Ich fühle mich wie 1:1 oder 0:0, wenn ich nach einem Sinn meiner chronisch-neurologischen Erkrankung suche. Ich fühle mich »unentschieden«, im Zweifel, ob der allmächtige Gott mit meinem kleinen Leiden vertraut ist. Ich schimpfe jeden Tag mit dem geheimnisvollen Herrn P., vielleicht weil ich mich nicht traue, Gott selbst anzuklagen. Mein Mietnomade P. untergräbt mein Weltbild und mein Gottesbild. Aber ich rede täglich mit Gott, ich bete, als gäbe es keine Zweifel. Ich bringe ihm meine Trauer mit dürren Worten. Ich trage ihm meine Enttäuschung vor, dass ich noch nie von einer übernatürlichen Heilung eines Parkinsonkranken gehört habe. Selbst wenn ich nicht in den Genuss kommen sollte, es würde mein Vertrauen in die Macht Gottes stärken, wenn er nur einmal symbolisch einen Zittermann ruhigstellen würde. Das wäre eine große Segnung für mein zweifelndes Gemüt.
    Ich könnte vom Glauben abfallen, wenn ich zuweilen euphorische Erfolgsmeldungen von zweifelhaften Heilungspredigern höre. Da werfen Gehbehinderte die Krücken weg und andere werden für immer von Migräne befreit. Aber dass Menschen von neurologischen Leiden – wie Parkinson – geheilt wurden, davon hört man nichts in den Erfolgsmeldungen dieser enthusiastischen Frömmigkeit. Bis auf die römisch-katholische Ordensfrau Marie Simon-Pierre, die zu Papst Johannes Paul II . gebetet hat und von Parkinson geheilt worden sein soll. Aufgrund dieses Heilungswunders wurde Johannes Paul II . am 1. Mai 2011 selig gesprochen.
    Auf die Idee, zu einem verstorbenen Menschen zu beten – auch wenn er von Beruf Papst ist –, bin ich bisher nicht gekommen. Ich ehre Mütter und Väter des Glaubens, ich lerne von ihnen, bewahre ihr Lebenszeugnis, aber ich kann nicht zu ihnen beten. Dieses Verständnis von Anbetung der Heiligen wird mir immer fremd bleiben, bei allem, was mich mit meinen römisch-katholischen Schwestern und Brüdern verbindet. Ich bete zu Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist.
    Angesichts der Aussichtslosigkeit einer gottgewirkten Heilung von Morbus Parkinson schnürt es mir immer häufiger die Kehle zu, wenn ich von biblischen Heilungswundern lese oder auch noch darüber predigen soll. Ich habe einfach keine Motivation mehr, über diese Texte öffentlich zu sprechen. Sie als historische Berichte in Erinnerung zu rufen, damit habe ich kein Problem.
    Wie oft stand ich am Teich Bethesda, auf dem heutigen Areal der Sankt-Anna-Kirche in der Jerusalemer Altstadt, und habe die Geschichte vom Gelähmten erzählt, der – wann immer sich das Wasser bewegte – stets einen Tick zu spät kam. Er hatte keinen Menschen, der ihn rechtzeitig ins Heilwasser hätte ziehen können. Eine ergreifende Geschichte, aber ich weiß immer weniger, was das für mich und andere, die auf Heilung warten, heute bedeutet. Natürlich weiß ich, wie man diese Texte exegetisch und homiletisch seriös auslegt. Da steckt immer Kraft drin. Aber der Zweifel gesellt sich stärker denn je zu meinem Glauben.
    Neulich war ich Gast im Gottesdienst einer modernen großen Gemeinde an der Schweizer Grenze. Der junge, feurige Pastor predigte zum Thema »Du kannst über das Wasser gehen!«. Eine starke Predigt! Und dann sah ich auf dem Weg zum gemeinsamen Mittagessen in der riesigen Cafeteria der Kirche den tragischen »Wetten, dass …?«-Kandidaten Samuel Koch im Rollstuhl in der Schlange »stehen«. Der sehnt sich nicht danach, übers Wasser zu gehen; dem würde es vermutlich schon reichen, wenn er sich das Wasser aus den Augen wischen könnte. Da wurde mir erneut bewusst, was

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