Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition)
Weil 1:1 nicht reicht, um im Frieden zu leben und zu sterben. Ich habe bis heute jede Menge ungeklärte Fragen im Blick auf Gott und die Welt, aber ich weiß, wo ich hingehöre. Im Leben und Sterben. Daran ändert auch Parkinson nichts.
16.
Ich kann nicht klagen!
Das ist ja furchtbar! Wenn Menschen nicht mehr klagen können, fehlt ihnen eine wesentliche Lebensqualität. Aber ich ertappe mich selbst bei diesem Spruch auf die Frage: »Na, wie geht’s?« – »Ach, ich kann nicht klagen!« Welch eine dumme Antwort. Inzwischen habe ich das Klagen gelernt. 50 Jahre gab es in meinem Leben keinen wirklichen Grund zur Klage. Irgendwann sollte ich diese hohe Schule des Gebets absolvieren.
Ich saß vor einigen Jahren in einem Kaffeehaus am Jaffa-Tor der Jerusalemer Altstadt. Mit einem israelischen Kollegen war ich zum Gespräch verabredet. Während sich mein Blick im Getümmel der Märkte verlor, erschien auf einmal ein Mensch vor dem Fenster des Kaffeehauses. Eine Kapuze bedeckte sein Gesicht zur Hälfte. Plötzlich riss eine Windböe die Kapuze weg, und ein eiskalter Schock durchfuhr mich. Noch nie habe ich einen Menschen mit solch entstelltem Gesicht gesehen. Dunkelblaue, eitrige, vernarbte und geschwollene Haut umgab die tief liegenden, ängstlichen Augen. Schnell riss sich der fremde Mann die Kapuze wieder übers Gesicht, um seinen Kopf zu bedecken. Ich war wie gelähmt. Obwohl ich das Gesicht nur wenige Sekunden gesehen hatte, fraß sich das Bild auf unheimliche Weise in meinem Gedächtnis fest: gnadenlos gespeichert, eingefangen in meinem Bildspeicher. Abends im Hotel angekommen, verfolgte mich immer noch das Bild des hässlichsten Antlitzes, das ich je gesehen hatte.
Noch im Kaffeehaus hatte ich aufspringen wollen und dem Mann etwas Gutes sagen, ihm vielleicht die Hand drücken, mit ihm klagen, ihn einfach spüren lassen, dass er trotz allem wertvoll ist. Aber dann übermannte mich die Angst, diesem Menschen gegenüberzutreten. Und bösartig bohrend brach in mir die Frage auf, wie Gott so etwas zulassen kann. Wie sollte ich diesem geplagten Mann nahebringen, dass Gott ihn liebhat? Und warum geht der überhaupt unter die Menschen? Müsste man den Mann nicht in der Quarantäne-Station einer Hautklinik unterbringen?
Seit diesem Augenblick weiß ich, was der alttestamentliche Prophet Jesaja in seiner Vision vom leidenden Christus meint: »Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg. Darum haben wir ihn für nichts geachtet« (Jesaja 53,3).
Der Heiland und Welterlöser, der Messias Gottes war einer, den man nicht anschauen konnte, so entsetzlich zugerichtet war er. Er hätte sich selbst heilen können, aber er fügte sich in das, was Gott ihm auferlegt hatte. Und er klagte und schrie: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Markus 15,34) .
Die Märtyrer werden anders dargestellt. Stephanus zum Beispiel, von dem in der Apostelgeschichte berichtet wird, sah »den Himmel offen« (Apostelgeschichte 7,56) . Er starb klaglos. Der Heiland der Welt jedoch verschied zitternd, klagend, dürstend und verzweifelt am Kreuz. Da kam Jesus ganz tief runter, um die äußerste Gottesferne zu durchleben und selbst die Frage zu durchleiden, wie Gott das zulassen kann.
Es gibt eine biblische Geschichte, die mir Zugang zur Bedeutung der Klage verschafft hat. Die handelt auch von einem übel Zugerichteten, von einem, den man nicht anschauen konnte. Eine unglaublich skandalöse Geschichte, die entweder den Zweifel am Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs heftig befeuert und unser Bild vom »lieben Gott« grundlegend erschüttert. Oder aber sie führt uns in eine neue, vielleicht nicht mehr so überlegene und vermeintlich unerschütterliche Gotteserkenntnis.
Die Rabbiner sagen, man solle das alttestamentliche Buch Hiob nicht allein lesen, sondern zu zweit, und man solle das Buch nicht lesen, bevor man nicht 40 Jahre alt ist. Man braucht Reife und Stabilität, um diese furchtbare Geschichte zu verdauen. Und es verarbeitet sich leichter, wenn man einen Weggenossen bei sich hat. Einen, den man nach dem Weg fragen und mit dem man leiden kann, wenn sich alles gegen uns stellt.
Es könnte sein, dass ich manchen Leser an dieser Stelle des Buches verliere. Der folgende Exkurs über Hiob mag diesen oder jene verunsichern oder verwirren. Es lohnt sich, bis Kapitel 19 durchzuhalten. Aber vielleicht gewinne ich auch einige, mich auf meiner
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