Alles bestens
behalten, auch meine Macken! Man verliert schon so viel im Leben – die Kindheit, die Eltern, letztendlich sogar das Leben selbst. Da kann man doch seine Macken nicht noch gratis an irgend so einen Psy abgeben.
Mein Herz schlug schneller, meine Erinnerungen überschlugen sich. Ja, sobald ich hier raus war, würde ich alles aufschreiben. Ich sah schon die schönsten Szenen vor mir, Sandra und ich, wie wir durch den warmen Kies gleiten. Alles würde ich natürlich nicht preisgeben, denn sie hatte mir ganz allein etwas geschenkt und das ging keinen was an.
Als es schon längst hell war, kamen zwei Beamte in den Zellentrakt, gingen an meiner Zelle vorbei und guckten nicht mal, obwohl ich winselte: »Ich muss mal, bitte!«
Sie schlossen weiter hinten eine Zelle auf, und bevor ich den Penner sah, roch ich schon, was ihm passiert war. Der Mann sah übel aus. Ich beobachtete alles haargenau, wie sie ihn an den Ellenbogen führten, obwohl er lieber allein gehen wollte, was jedoch ignoriert wurde. Als zukünftiger Schriftsteller brauchte ich jedes Detail. Ich schrieb es in die Luft, um nichts zu vergessen. Zwischendurch schloss ich die Augen und pflückte mir Sandras Lächeln vom Baum der Versuchung. Das beruhigte mich, ließ meinen Flügel in mir schwingen, lenkte mich ab von meiner vollen Blase und vom Elend dieser Welt.
Gegen Mittag standen meine Eltern vor der Zellentür. Meine Mutter im weinroten Jerseykleid, mit weinrotem Lippenstiftmund, rot geäderten Augen und kreidebleich.
»Johannes, wie siehst du denn aus?« – Dasselbe hätte ich sie auch fragen können!
Mein Vater neben ihr war auch rot, knallrot vor Wut. Er raunzte gleich die Beamten an, warum ich nicht in ärztlicher Behandlung sei, und zeigte auf mein blutverkrustetes Knie.
»Das ist hier eine Ausnüchterungszelle«, sagte ein Polizist, »kein Krankenhaus und auch kein Hotel. Wir wissen schon, wen wir wann wohin schicken müssen.«
»Sie!«, sagte mein Alter und holte tief Luft. »Sie haben doch nicht mal Abitur!«
Dem Bullen rutschte die Kinnlade runter.
Mein Vater ist Orthopäde und lässt sich ungern etwas sagen, schon gar nicht von Nichtmedizinern. Außerdem war er geladen, wahrscheinlich wegen mir. Jetzt ließ er seine Wut noch an den Beamten ab, aber was würde auf mich zukommen, wenn wir erst mal zu Hause waren? Ich war bereit, auch ihm einiges zu erzählen!
Die Polizisten wurden langsam sauer. Ich bekam das zu spüren. Sie ignorierten immer noch meinen Wunsch, aufs Klo gehen zu dürfen, und meine Eltern wussten ja nicht, wie nötig es war, und da ist es halt passiert. Ich sag es nicht gern, aber es gehört zu meiner Geschichte: Ich pisste mich voll. Es rann mir warm die Beine hinab und eine gelbe Pfütze bildete sich auf dem Boden.
Inzwischen habe ich eine fette Anzeige, aber die Beamten auch. Für mich sieht es – allem in allem – gar nicht so schlimm aus, bezahlbar, würde ich sagen, schließlich war ich ziemlich besoffen und auf meinen seelischen Zustand muss man auch Rücksicht nehmen. Meine Mutter hat diesbezüglich schon ein Gutachten in Auftrag gegeben. Und mein Alter hat einen guten Rechtsanwalt für mich organisiert – überhaupt hat er sich ziemlich zusammengerissen, bis wir zu Hause waren, obwohl ich das ganze Auto vollmiefte. Ich musste mich auf drei Plastiktüten setzen, damit die Sitze nichts abkriegten.
Zu Hause, die Haustür war kaum ins Schloss gefallen, fing meine Mutter an zu weinen. Ich kann euch sagen, sie hatte schon jahrzehntelang nicht mehr geweint. Sie schluchzte und setzte sich an den Küchentisch, vergrub ihr Gesicht in den Händen. Ich wollte sie trösten, aber ich wusste nicht, wie.
»Geh du erst mal duschen und zieh dir was Anständiges an!«, sagte mein Vater zu mir.
Das Wasser war eine Wohltat. Ich ließ es auf meinen schmerzenden Kopf pladdern, ins Gesicht, heiß und kalt und wieder heiß und kalt, und kam langsam wieder zum Vorschein. Das Handtuch duftete aprilfrisch und für eine Viertelsekunde war es wie früher am Wochenende: Meine Mutter hatte mich aus der Badewanne gehoben und ins weiche Badetuch gepackt; in der Küche wartete schon mein Milkshake auf mich und gleich würde ich mich auf das Sofa kuscheln und Starwars gucken.
Aber es wartete kein Milkshake in der Küche auf mich und ich war kein Kind mehr.
Mein Zimmer – und das ganze verdammte Haus – kam mir so fremd vor, als würde ich schon lange nicht mehr hier wohnen. Und ich wollte hier auch nicht mehr wohnen. Das war mir an diesem
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