Alles bleibt anders (German Edition)
rennt zu ihm. Hinter einem Schleier von Tränen sieht er sie Hilfe suchend an.
Seine Mutter blickte ihn immer noch an, die Gesichtszüge seiner Mutter älter und faltiger als eben noch vor Franks geistigem Auge, verbrauchter, aber auch erfahrener. Ihr Haar, früher dunkelblond und lockig, war nun komplett ergraut, die Locken waren ihr geblieben. Sie kämpften links und rechts des Kopftuchs um ihre Freiheit.
»Frank!«
Sie holte ihn zurück aus seinem kurzen Augenblick der Versunkenheit.
»Ich kann mich nicht erinnern.«
Franks Mutter Luise sah den verzweifelten Ausdruck in seinen Augen, spürte die Leere, tief in ihm.
Das unsichtbare Band zwischen der Mutter und ihrem Kind, war zu einer dünnen, feinen Faser verkümmert.
Er war es , daran bestand nicht der geringste Zweifel für sie. Weiter in ihn zu dringen, hieße für sie, ihn zu quälen, diesen magischen Moment zu zerstören.
Er benötigte Zeit, sie wollte sie ihm geben.
So nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn die paar Meter zurück zum Grab, an dem sie bis gerade eben gearbeitet hatte.
Frank sah die Stiefmütterchen, die noch jungen Pflanzen waren so gesetzt, dass sie erblüht ein Kreuz ergeben würden; in den vier Ecken des Grabs: Efeu. Ein Schaudern überkam Frank, als er die geschwärzte Gravur auf dem weißen Marmor des Grabsteins las:
'Frank Miller – * 24.10.1978 – + 23.5.2005
Ernst Marian Miller – *12.3.1942 – + 1.6.2005'
Danach etwas Platz für einen weiteren Namen und dann:
'Die Wege unseres Herrn sind unergründlich'.
Luise kniete wieder. Sie fingerte die Triebe des Efeus links vorne so zurecht, dass sie, wie von ihr gewünscht an der Einfassung des Grabs weiterrankten und nicht etwa nach innen zu den Stiefmütterchen oder nach außen auf den Weg oder ins Nachbargrab. Ausgewachsen sollte der Efeu den Blumen einen würdigen Rahmen bieten. Vorne, zum Weg hin, war der Sockel einer Weihwasserschale in die Erde eingelassen. Den Deckel der Schale zierten zwei betende Hände.
Frank las die Namen, wieder und wieder.
Er suchte ein Echo tief in sich drin. Irgendeine Emotion sollten die Buchstaben doch hervorrufen, dachte er. Sie taten es aber nicht.
»Nachtfrost sollte ja jetzt keiner mehr kommen, ist ja schon Mai …«, meinte Luise.
Dann, als ob sie sich noch einmal vergewissern wollte, dass da kein Geist neben ihr stand oder sie sich die Wiederkehr ihres Sohnes nur einbildete, sah sie zu ihm auf und folgte seinem Blick.
»Herzinfarkt!«, sagte sie. »Das war zumindest die offizielle Erklärung.«
Sie stand auf, griff in den Korb auf dem Fahrrad und kümmerte sich dann, mehrere kurze Drähte in der linken Faust haltend, wieder um den Efeu.
»In Wahrheit ist er bereits eine Woche vorher gestorben, an dem Tag, als die beiden Männer von der Gendarmerie bei uns vor der Tür standen.«
Sie bog einen der Drähte zu einer Schlaufe und fixierte einen besonders widerspenstigen Efeutrieb.
»Ich musste ihn stützen, als die beiden uns ihre schreckliche Vermutung mitteilten. Ab diesem Zeitpunkt hat er kaum noch ein Wort geredet.«
Mutter und Sohn hatten so viele Fragen und schwiegen sich doch erst einmal an. Der Absurdität der Situation nicht bewusst, arrangierte Luise weiter die Pflanzen, gerade so, als wäre nur der Besitzer des Nachbargrabs neben ihr stehend und hätte ihr etwas über die neueste Wettervorhersage erzählt, und nicht etwa ihr seit fast drei Jahren tot geglaubter Sohn.
»Er ist hier. Ich kann ihn spüren«, sagte Luise, und dann ergänzend: »Dein Vater!«
Einen der Triebe, der sich partout nicht zähmen lassen wollte, knickte sie mit ihren Fingernägeln ab.
»Dich konnte ich nie spüren. Deshalb wusste ich, dass du nicht tot sein konntest.«
Und dann – endlich – realisierte sie, dass der so lange Vermisste leibhaftig neben ihr stand und dass sie nicht, wie an jedem Tag der vergangenen Jahre zu jemandem sprach, der vor ihr in der Erde tot und vergraben lag.
Bisher ruhig und gelassen geblieben, zitterten nun ihre Hände, die Drähte fielen zu Boden.
Sie blickte auf und sah ihn an.
»Wo warst du?« Ihre Stimme bebte. »Wo warst du, Frank?«
Genauso hilflos und fragend wie die ihren, waren auch seine Augen.
»Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht … Mutter.«
Luise sammelte die Drähte und den Rechen ein, stand auf und packte die Sachen in ihren Korb. Dann wischte sie sich die Hände an ihrer Schürze ab. Schließlich öffnete sie die Weihwasserschale, nahm den Wedel heraus und spritzte einige Tropfen der kostbaren Flüssigkeit auf die
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