Alles Fleisch ist Gras
nie machen, nicht in diesem Land. Im Großen und Ganzen muss ich Ihnen recht geben, aber ich bin eine Ausnahme. Ich bin auch nicht betrunken – geben Sie es zu, daran haben Sie schon gedacht!« Warlam Edmundowitsch schlug die Augen nieder. Weiß hauchte ihn an. »Kein Alkohol, oder?« Dann entfernte er das Klebeband und stieß Warlam auf den Gang hinaus.
Als Warlam seinen Chef sah, stieß er einen leisen Pfiff aus. Mit einem Mal wurde ihm vieles klar. Die Deutschen (und die Österreicher, das war dasselbe) waren tatsächlich so, wie es ihm sein Vater erklärt hatte. Warlam war erst zwölf gewesen, der Vater kurz darauf an Krebs gestorben (die Mutter war damals schon tot), aber er hatte die Kriegserinnerungen seines Vaters im Gedächtnis behalten: Die Deutschen, hatte sein Vater oft betont, existierten nur in zwei Zuständen. Im Mozart-Zustand und im Hitler-Zustand. Dazwischen war nichts. Aus Gründen, die niemand kannte, schalteten sie zwischen diesen beiden Zuständen hin und her, oft innerhalb von Minuten. Nicht alle, aber viele.
Dieser Polizist Weiß hatte vor kurzem umgeschaltet, in welchen Zustand, unterlag auch keinem Zweifel.
»Er ist tot«, erklärte Weiß und deutete auf die groteske Figur unter dem Tisch. »Ich hab’s übertrieben, ich gebe es zu …« Das schien ihn zu beschäftigen, so war das nicht geplant.
»Man übertreibt es gerne«, sagte Warlam, »wenn man keine Erfahrung hat.«
»Haben Sie denn Erfahrung?«
»Ich war damals in Jugoslawien. Beruflich.«
»Ah ja … Wie auch immer, die Sache ist passiert …«
»Wo soll er hin?«, unterbrach ihn Warlam.
»In die Tiefgarage«, sagte die Frau. »Und Sie werden ihn tragen.«
Warlam lächelte. »Sie überschätzen meine Möglichkeiten, Madame. Dieser Mensch wiegt sicher hundert Kilo, das kann ich nicht so einfach tragen …«
»Das kommt alles aus dem Kino«, sagte Nathanael Weiß, »da schmeißen sich die Helden andere Leute auf die Schulter und rennen damit weg …«
»Wir müssen ihn jedenfalls in irgendwas einwickeln«, schlug Warlam vor, »in ein Bettlaken oder so … Es sieht sonst so blöd aus, wenn wir jemandem auf der Treppe begegnen.«
Warlam holte ein großes Laken aus dem Schlafzimmer und machte aus Konrad Mugler ein längliches Paket und verschnürte es mit weiteren Kabelbindern, von denen Weiß noch eine Menge übrig hatte. Warlam Lemonow nahm sich den vorderen Teil, Nathanael Weiß den hinteren, die Frau ging voran. Im Lift stellten sie das Paket in eine Ecke, Warlam passte auf, dass es nicht umfiel. Im zweiten Stock hielt der Lift, die junge Frau vor der Tür zögerte, als sie die drei Leute und das weiße Paket sah.
»Kommen Sie ruhig rein«, sagte Nathanael Weiß, »genug Platz!« Er lächelte. Die Frau trat ein, die Fahrt ins Erdgeschoss verlief schweigend. »Wiedersehen«, murmelte sie, als sie den Lift verließ.
»Ist das nicht gefährlich?«, fragte Warlam. »Sie hat uns gesehen …«
»Na und? Was hat sie denn gesehen? Drei Leute in einem Lift, einer davon Polizist …«
»Und ein merkwürdiges Paket«, wandte sie ein.
»Ja, ja«, schimpfte Weiß, »ihr mit eurer Paranoia!« Er lachte. »Jetzt rennt sie schnurstracks auf den Posten und macht Meldung – glaubt ihr das?« Das mussten beide verneinen. »Was soll sie auf der Polizei? Ich bin die Polizei, ich bin schon da. Also!«
Sie legten Konrad Mugler in den Kofferraum seines eigenen Autos. Jetzt war die letzte Chance für Warlam, aber er war wie gelähmt. Wenn er nicht handelte, würde ihn der wahnsinnige Polizist von hinten erschießen und auch in den Kofferraum stoßen – es sei denn, sie brauchten ihn noch einmal zum Herausheben und Tragen. Dort, wo sie hinfahren würden. Er betrachtete den Polizisten. Der hatte die Pistole wieder eingesteckt. Er erwartete keinen Angriff. Die Frau schon. Sie trug ihre Waffe in der Hand. Nicht mehr den Schocker, sondern einen stupsnasigen Revolver. Sie hielt ihn so, dass sie damit schießen konnte, ohne sich die Hand zu brechen; der Hahn war gespannt. Warlam Lemonow hatte ein beruflich bedingtes Gespür in der Einschätzung von Personen entwickelt, was ihre waffentechnische Kompetenz betraf. Bei dieser Frau war sie vorhanden, die Kompetenz. Sie würde schießen, ehe er einen Schritt machen konnte, da halfen auch keine asiatischen Kampfkünste. Er war nicht der Held, der sich aus solchen Situationen mit einem Schrei und in der Luft herumwirbelnden, tödlichen Gliedmaßen befreien konnte. Solche Helden gab es nur im Kino. Die
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