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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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Frau würde schießen und treffen. Das kleine Kaliber würde ihn zwar nicht stoppen, aber seinen Angriff behindern …
    »Es sind Flat-Nose-Geschosse«, erklärte sie. »Hollow Point. Sie kennen das sicher.« Sie sah ihn an. Er nickte. Er kannte diese Geschosse. Er hatte zugesehen, wie Wladimir neben ihm an einem gestorben war. Sehr langsam, aber doch.
    »An Ihrer Stelle würde ich mir den Kung-Fu-Scheiß aus dem Kopf schlagen«, sagte sie. Warlam breitete die Arme aus. »Kein Problem«, sagte er.
    »Kinder, streitet euch nicht!« Nathanael Weiß war gut gelaunt. »Herr Lemonow scheint mir ein vernünftiger Mann zu sein.« Warlam nickte.
    »Eben deshalb hat er wahrscheinlich schon bemerkt, dass es hier nicht um seine werte Person geht – es ist eine innere Angelegenheit dieses Gemeinwesens.«
    »Innere Angelegenheit …«, wiederholte Warlam. Er sprach langsam, als erinnere er sich eines Liedes aus seiner Kindheit, längst vergessen geglaubter Verse.
    »Herr Lemonow wird uns nun beim Transport behilflich sein, danach wird er sich des Wagens annehmen und sich darin in östlicher Richtung entfernen. – Ist das ein Vorschlag?«
    »Guter Vorschlag«, bestätigte Warlam. Er stieg auf der Beifahrerseite ein, sie hinten, Weiß setzte sich ans Steuer. Die Fahrt zur Anlage dauerte keine fünf Minuten, gesprochen wurde nichts. Sie öffnete das Tor, sie fuhren bis zur Blechhütte am Fuß des Gärturms. Warlam stieg aus, wuchtete das Paket heraus, legte es wie eine kostbare Fracht auf den Asphaltboden.
    »Und jetzt?«, fragte er.
    »Ihr Part ist erledigt, Warlam Edmundowitsch«, sagte Nathanael Weiß.
    »Ich soll jetzt fahren?«
    »Wenn Sie nichts in der Gegend zu tun haben … wozu ich Ihnen nicht rate, wenn ich ehrlich sein soll.«
    »Ich brauche Geld …«
    »Sie nehmen die nicht unbeträchtlichen Mittel an sich, die noch in der oberen Wohnung versteckt sind, genau die, nach denen wir zu suchen vergessen haben – zu blöd auch.«
    Warlam nickte. Er stieg ein. Wenn ihn die Frau jetzt noch in den Rücken schoss, war sie wirklich schräg drauf. Sie tat es nicht. Als er die Tür zumachen wollte, hielt sie Weiß offen.
    »Nur der Vollständigkeit halber: Zurückzukommen, egal in welcher Tarnung, wäre keine gute Idee …«
    »Nicht zurück …«, sagte Warlam.
    »Wir machen es diesmal richtig. Wir lösen das Drogenproblem, verstehen Sie?«
    »Nur aus Neugier, nicht böse sein: Herr Mugler hat Stellvertreter …«
    Nathanael Weiß deutete auf das weiße Paket.
    »Verstehe …« Warlam wiegte den Kopf hin und her, wie er es beim Schach bei riskanten Zügen des Gegners zu tun pflegte. Es war eine blöde Angewohnheit, weil es den Gegner warnte. »Aber die … die Kunden …«, sagte er dann.
    Nathanael Weiß deutete auf das weiße Paket.
    Warlam pfiff durch die Zähne. »Sie haben eine Menge Arbeit vor sich. Ich will Sie nicht aufhalten. Ich fahre, so schnell ich kann …«
    »Nein, Sie halten sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung!« Weiß drohte mit dem Zeigefinger. »Im Ernst: kein Aufsehen. Lassen Sie sich Zeit. Packen Sie in aller Ruhe …«
    »… und nehmen Sie was Warmes zum Anziehen mit«, sagte sie. »Die Nächte sind schon frisch.«
    »Ja, Madame«, sagte Warlam und ließ den Motor an.
    »Drehen Sie sich nicht um«, sagte Weiß.
    Das tat Warlam nicht. Die beiden sahen ihm nach, bis er unter den Bäumen verschwunden war. Dann widmeten sie sich dem weißen Paket.

7

    Ingomar Kranz hatte in seiner beruflichen Laufbahn manchmal Beispiele menschlicher Abscheulichkeit gesehen – erst auf verwackelten Super-8-Streifen, dann auf VHS-Kassetten und DVDs. Das Zeug kam aus Kriegsgebieten, die weit entfernt lagen. Manche auch nicht ganz so weit, der Balkan zum Beispiel. Es stammte aus dubiosen Quellen und wurde ihm über Mittelsmänner zugespielt. Man konnte das alles samt und sonders sowieso nicht senden, er bekam es auch nur, weil er in irgendwelche Verteiler gerutscht war und im Zeitalter der elektronischen Vervielfältigung eben auch das Grauen vervielfältigt wurde; die Absender erwarteten vom Provinzjournalisten Ingomar Kranz keine maßgeblichen Reaktionen; man zog eben eine Kopie mehr wie beim Urlaubsvideo, auch der nette Onkel Franz bekam eine. Die propagandistischen und sonstigen Wirkungen entfalteten sich an anderer Stelle, er war nur Beobachter des Geschehens, Zeitzeuge.
    Das Anschauen solcher Videos, das Anhören der oft unglaublichen akustischen Sensationen führt bei den meisten Menschen aus entwickelten Ländern zu

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