Alles Fleisch ist Gras
begnügen, den er durch Öffnen aller Kellerfenster und Türen, sogar der Haustür, erzwingen konnte, es zog wie in einem Vogelhaus, es wurde eiskalt, das mochte auch helfen,der Dampfdruck war dann geringer. Die meisten Leute kriegten nur gemeines Kopfweh von den Dämpfen der Substanz, aber manche wurden benommen, und das war schlecht, ganz schlecht. Wer beim Abfüllen dieses Öls benommen war, hatte schlechte Karten.
Denn es durfte nicht erschüttert werden. Indem zum Beispiel ein Tropfen in die Flasche hineinfiel. Fallen war schlecht. Das Öl durfte rinnen, aber nicht tropfen. Unter keinen Umständen.
Die Flasche war voll. Im Ballon gab es noch eine beträchtliche Menge. Er stellte die Flasche mit großer Sanftheit auf den Boden und ließ den Rest mit ebenso großer Sorgfalt wie vorher in einen Eimer Wasser laufen, spülte mit Spiritus nach. Er würde die Reste später im hinteren Teil des Gartens wegschütten. Er stellte die Flasche auf den Tisch. Er lebte noch. »Seht ihr, liebe Kinder, ich lebe noch.« Er hob den Zeigefinger, wackelte damit in der Luft herum. »Der Onkel lebt noch, das heißt aber nicht, dass ihr das zu Hause nachmachen sollt! Das dürft ihr auf keinen Fall! Denn dass der Onkel jetzt noch lebt, liegt nur daran, liebe Kinder, dass er ein eiskaltes Arschloch ist, ehrlich! Ihr glaubt mir nicht? Ach so, das Arschloch schon, nur dass es so gefährlich ist, glaubt ihr nicht? Es hat doch so einfach ausgesehen! Dann bittet Papa oder Mama, sie sollen euch aus der Videothek den Film Lohn der Angst mitbringen. Ja, ich weiß, die Bösen unter euch laden ihn sich widerrechtlich aus dem Internet runter. Wie dem auch sei: ein sehenswerter Film. Yves Montand spielt mit und Peter van Eyck in seiner besten Rolle. Unbedingt ansehen!« Dann fing er an zu lachen.
»Warum hast du die Haustür offen gelassen?« Die Stimme kam von oben, dahinter das Gelächter der Mädchen, die sich etwas Lustiges erzählt hatten. Vermutlich. Er hatte nicht mehrso den Überblick, aus welchen Gründen sie lachten und aus welchen nicht.
»Vom Löten«, rief er zurück, verstaute die Wermutflasche, die keinen Wermut enthielt, in einem der Wandschränke. »Die Isolierung ist angekommen, hat furchtbar gestunken!«
»Ich riech nichts.« Sie kam die Treppe herunter. Er trat in den Kellerflur, schloss die Tür zum Bastelraum hinter sich. »Wie war’s auf dem Weihnachtsmarkt?«
»Ach, das Übliche.« Sie umarmte ihn. »Die Musik ist nicht mehr so laut wie letztes Jahr. Stell dir vor, sie haben jetzt Decken über die Lautsprecher gehängt!«
»Dann hat dein Leserbrief doch was genützt!« Sie gingen nach oben. Hilde hatte wegen der übertriebenen Lautstärke der Berieselungsmusik, die zentral gesteuert wurde, einen Brief an die Lokalzeitung geschrieben und die dezentere Vorgangsweise auf anderen Weihnachtsmärkten erwähnt, zum Beispiel in Feldkirch. Die Verantwortlichen reagierten erwartungsgemäß nicht, aber die Mieter der Verkaufsstände. Mit Decken. Wir sind ein glückliches Gemeinwesen, dachte Anton Galba. Mit überschaubaren, lösbaren Problemen. Zu laute Lautsprecher auf dem Weihnachtsmarkt. Nur ein Beispiel. Oder ein Polizist, der Leute verschwinden lässt. Nein, das gehörte wohl nicht hierher. Auch nicht der Leiter der städtischen Abwasserreinigungsanlage, der dem Polizisten dabei hilft. Beim Leute-verschwinden-Lassen … nein, stimmt so nicht: Er hilft nicht, er hat nur nichts dagegen unternommen. Bis jetzt.
Die Mädchen zeigten ihm, was sie gekauft hatten. Filzpantoffeln und eine Art Glaskugel zur Luftverbesserung. Sie verströmte einen penetranten Zimtgeruch. Anton Galba zeigte sich in erwartetem Maße erheitert. Weihnachtsmärkte dienten der nostalgischen Erheiterung, die Töchter waren dem Alter, in dem sie das alles ätzend gefunden hatten, entwachsenund im Alter der sentimentalen Erinnerung angekommen, in dem sie bis ans Ende ihrer Tage bleiben und Jahr für Jahr ebenso unnötige wie kitschige Dinge auf Weihnachtsmärkten kaufen würden. Ich bin ein guter Vater und Ehemann, dachte er, ich spiele mit, bewundere ihre Einkäufe, spreche über den Weihnachtsmarkt, über das kommende Fest und kann nebenbei an ganz anderes denken, ohne dass es jemand merkt. Dass uns kein Erdbeben passieren sollte zum Beispiel. Weil sonst die Wermutflasche im Schrank im Keller umfällt. Ich muss sie verkeilen, dachte er; Erdbeben sind selten bei uns und niemals stark, aber die Flasche könnte umfallen, ich muss sie verkeilen, jetzt gleich.
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