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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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Sie enthält ja keinen Wermut. Es sieht nur so aus.
    Er entschuldigte sich, er habe nur was im Keller vergessen. Bin ich ein Monster? Nein, nur jemand, der keinen anderen Ausweg sieht als eine Flasche mit Wermut, der kein Wermut ist. Eine Flasche, die nicht umfallen darf. Nicht hier.

9

    Es kam allein auf den Schrecken an. Wenn der Schrecken groß genug war, würde Nathanael aufhören, davon war Galba überzeugt. Diese Überzeugung war die Frucht einer persönlichen Erfahrung. Sein Studienkollege Günther, Chemiker, hatte im Rahmen seiner Dissertation irgendwelche Azide als Zwischenprodukte synthetisiert. Galba war nicht dabei gewesen, hatte die Ereignisse nur durch Befragung anderer Studenten rekonstruieren können, nicht durch Auskünfte von Günther selbst, denn der gab über den Vorfall nichts preis.
    Die Sache war etwa so abgelaufen, dass Günther eine Apparatur im Abzug aufgebaut, eben die Zutropfmenge am Tropftrichter eingestellt und sich abgewandt hatte, als das unbekannte Azid aus nicht nachvollziehbaren Gründen sich hinter Günthers Rücken heftig zersetzte. Es war ein so lauter, peitschender Knall, dass er nicht nur im Stockwerk der Organischen Chemie zu hören war, sondern im ganzen Gebäude, sogar außerhalb des Gebäudes, weshalb drei Minuten nach der Explosion die von besorgten Passanten alarmierte Feuerwehr am Ort des Geschehens eintraf, wo sie im vierten Stock einen bewusstlosen, aber unverletzten Dissertanten vor einem Abzug vorfand, in dem alle gläsernen und nichtgläsernen Einbauten, Kolben, Rohre und Gestänge, in kleinfingernagelgroße Fitzelchen zerrissen waren – alles innerhalb eines Radius von etwa einem halben Meter. In diesem Umkreis hatten sich zwei Sekunden vorher Kopf und Oberkörper des unglückseligen Chemikers befunden, der dies nach dem Vorfall nicht mehr lange blieb, Chemiker nämlich.
    Günther war nicht mit dem sprichwörtlichen blauen Auge davongekommen, sondern mit einem kaputten Ohr (auf dem linken hörte er nie mehr), sonst aber körperlich unversehrt geblieben. Psychisch wurde er nicht mehr. Veränderte sich, ließ das Studium schleifen, brach es ab, wechselte den Freundeskreis und zog sich mit Beginn des nächsten Sommersemesters auf die Kanareninsel La Gomera zurück, wo er sich einer obskuren Hippiekommune anschloss. Anton Galba verlor ihn aus den Augen, bis er vor ein paar Jahren erfuhr, dass sich Günther als Massagetherapeut auf indischer, vielleicht aber auch tibetanischer Grundlage einen Namen und eine gutgehende Praxis geschaffen hatte. In Innsbruck, nicht auf La Gomera.
    So hatte ein einziger lauter Knall eine Existenz in eine andere Richtung gelenkt, aus einem trockenen Naturwissenschaftler eine Art Guru gemacht, wie ja auch nach der berühmten Luther-Anekdote ein überstandener Blitzschlag den Studenten der Rechte ins Kloster und in die Theologie getrieben hatte.
    So einen Knall brauchte auch Nathanael Weiß, davon war der Ingenieur überzeugt. Nur ein Ereignis wie jenes, das Günther aus der gewohnten in eine andere Bahn geworfen hatte, würde auch Nathanael Weiß von der Straße ins Verderben abbringen. Denn Anton Galba war von zwei Dingen überzeugt, die er wochenlang erwogen und in alle Richtungen untersucht hatte:
    Erstens, dass die Aktivitäten des Chefinspektors an natürliche Grenzen stoßen würden. Das hier war Mitteleuropa, nicht das Herz der Finsternis. Und Weiß ein Serienkiller, technisch gesprochen. Solche Leute haben ein Ablaufdatum. Die Verbesserung von Dornbirn nach der Weiß’schen Methode würde sich nicht in alle Ewigkeit fortsetzen lassen; es war einfachnicht denkbar, alle sechs, sieben Wochen jemanden verschwinden zu lassen, ohne dass dies irgendjemandem auffiel , Polizeiinspektor hin oder her. Jemand würde etwas sehen oder hören und es melden, auch wenn bis jetzt niemand etwas gesehen oder gehört oder gemeldet hatte. Das war einfach Glück, eine Strähne, wie fünfmal hintereinander Schwarz beim Roulette. Irgendwann würde die Kugel auf Rot fallen. Unweigerlich.
    Das wäre Anton Galba alles egal gewesen, wenn nicht zweitens er selbst dann mit in den Abgrund gerissen werden würde. Ebenso unweigerlich. Er würde alles verlieren, seine Hilde, seine Töchter, das Haus, den Job sowieso, sein ganzes Leben würde er im Gefängnis verbringen, so viele Jahre, dass er den Rest vergessen konnte. Das kam nicht in Frage.
    Anton Galba dachte nie daran, dass sein Plan scheitern könnte. Jeder Unvoreingenommene hätte ihn fragen müssen, mit

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