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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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Das war die Schule des Verbrechens. Aber um dort hineinzukommen, mussten die Anfänger erst einmal etwas Ungesetzlichesanstellen und dabei erwischt werden. Also war anfängliches Scheitern die Voraussetzung für späteren Erfolg. Ein interessanter Gedanke, den er in einem Essay ausbauen sollte – der Bildungsgang des Verbrechers verlief umgekehrt wie der gewöhnliche, wo man zuerst viele Jahre der Ausbildung absolvieren musste, bevor man auf die Praxis losgelassen wurde. Gab es über diesen Unterschied eine soziologische Untersuchung? Der diametrale Werdegang musste doch auch zu einer völlig anderen Weltsicht führen … Ingomar spürte, wie ihn der Gedanke gefangennahm, ertappte sich beim Ausdenken einer Recherchestrategie für das Thema: Ist das Gefängnis die Schule des Verbrechens? Oder das Verbrechen die Schule des Gefängnisses? Sind diese Begriffe dialektisch aufeinander bezogen?
    Alles höchst interessante Fragen, aber leider ohne jeden Bezug zur aktuellen Lage. Die erforderte, dass er etwas tat. Etwas sehr Bestimmtes. Ungesetzliches. Wobei man darüber streiten konnte, ob es ungesetzlicher war als das, was er zusammen mit Chefinspektor Weiß angestellt hatte. Zählte man die Jahre Gefängnisstrafe eigentlich zusammen, oder gab es eine Art Rabatt? Gerichtsreportagen waren das Einzige, womit er sich nie beschäftigt hatte, dafür gab es im Sender Spezialisten; früher abgebrochene Jusstudenten, heute sogar fertige mit Magisterium. So ändern sich die Zeiten, dachte er, es wird alles immer besser … Er fing an zu lachen.
    Nach einer Weile gelang es ihm, sich wieder auf die anstehende Aufgabe zu konzentrieren. Am Nachmittag fuhr Ingomar Kranz in den BayWa Bau & Gartenmarkt in Lauterach. Er brauchte verschiedene Ausrüstungsgegenstände. Der Laden war voll. Es gab alles. Zum Beispiel ein Bischofskostüm mit Chorhemd, Mantel, Mitra und Stab um nicht einmal zweihundert Euro, Kunstfaser natürlich, aber vom Griff und Aussehendurchaus edel, kein billiges Zeug; damit konnte jeder, der das wollte, einen untadeligen Nikolaus abgeben. Daneben Santa-Claus-Kostüme für die amerikanisierte Klientel. Ingomar kaufte eines. Dazu eine Werkzeugtasche mit Inhalt, ein Paar Winterstiefel, ein Paar Lederhandschuhe und ein Brecheisen. Und einen Weihnachtsstern zur Tarnung. An der Kasse bedauerte er den Kauf der Topfpflanze. Tarnung war unnötig. Die Zusammenstellung der Gegenstände in den anderen Einkaufswagen war nicht weniger absurd als die seine. Zementsäcke und Christbaumkugeln. Dazu Werkzeuge, die er nicht einmal hätte benennen können, geschweige denn angeben, wozu sie dienten. Dabei hatte ihn der Kauf der Brechstange mit Sorge erfüllt. Er nahm einen sogenannten Geißfuß , mit dessen gespaltener Spitze man dicke Nägel herausziehen konnte, aus Kistendeckeln zum Beispiel; aber man konnte damit auch schlecht gesicherte Türen aufbrechen, zum Beispiel die Hintertür des Weiß’schen Hauses. Würde das irgendwem auffallen?
    »Ja, Herr Inspektor, jetzt, wo Sie fragen, fällt es mir ein: So ein komischer, blasser Mensch hat vor zwei Wochen einen Geißfuß gekauft, davon gehen das ganze Jahr nur drei Stück, wissen Sie, drum hab ich mir das gemerkt. Und ein Nikolauskostüm hat er auch gekauft, das ist mir aufgefallen … Ja, natürlich würde ich ihn wiedererkennen; Sie übrigens auch, Herr Inspektor, es ist dieser Typ aus dem Fernsehen …« Ingomar hielt dieses Szenario im hintersten Hirnwinkel für wahrscheinlich. So würde es laufen, wenn es schlecht lief; er ließ es darauf ankommen. Er brauchte das Werkzeug, sonst kam er nicht ins Haus, er hatte keine Wahl. Es gab keinen anderen, weniger auffälligen Weg, an den Geißfuß zu kommen, als ihn zu kaufen. Häuslebauer oder Söhne von Häuslebauern hatten einen Geißfuß daheim im gut sortierten Keller oder in derGarage. Ein Modell aus dem Jahre 1955, geerbt. Und dazu noch weitere dreihundert Werkzeuge, die einen beträchtlichen Teil des gesamten häuslichen Stauraums einnahmen. Sogenannte Intellektuelle und Söhne von Intellektuellen hatten daheim einen Haufen Bücher, aber sonst nicht einmal einen Schraubenzieher. Er hätte ein ganz anderer sein müssen, das war ihm klar: All diese Hausbesitzer konnten jeden Abend einbrechen, wenn sie wollten, sie hatten die Ausrüstung dazu. Fluchttunnel graben, Tresore aufschweißen. Aber die taten das nicht. Er, dem alle Voraussetzungen fehlten, musste es tun.
    Er setzte alles auf eine Karte. Es hatte keinen Zweck, wegen des

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