Alles Fleisch ist Gras
das nicht aufgefallen. Bis jetzt. Bis zu deiner Frage.«
Ingomar Kranz schien verlegen, was die Frau noch mehr für ihn einnahm.
»Es kann doch sein«, meinte er, »dass spontanes Vorgehen genau richtig ist – so, wie ihr es bisher gemacht habt.«
»Kann aber auch sein«, sagte Nathanael, »dass es falsch ist und wir bis jetzt nur Glück hatten. Was stimmt, finden wir nie heraus, wenn wir uns die Sache nicht durch den Kopf gehen lassen. Da hat sie schon recht.«
»Wenn ich euch richtig verstehe«, setzte Ingomar fort, »existiert bis jetzt nicht nur kein Plan, sondern es gibt auch keine schriftlichen Aufzeichnungen, Skizzen, Notizen, nichts dieser Art?«
»Nein, ganz so ist das nicht«, sagte Nathanael Weiß. »Ohne Notizen – ich meine, ohne eine Materialsammlung über die Zielperson geht so etwas nicht. Da wäre keine Polizeiarbeit möglich – und das, was wir machen, auch nicht – Sie müssen die Gewohnheiten der Leute kennen, ihre wahrscheinlichen Handlungen. Nicht wie ein Profiler, aber doch so gut, dass ein Überraschungsmoment weitgehend ausgeschlossen ist. Sonst wäre die Sache zu riskant.«
»Aber Computer können angezapft werden, ich weiß, dass die Hacker heutzutage…«
»… Eben deshalb gibt es ja bei dieser Sache keinen Computer«, unterbrach ihn Weiß. »Alles nur Papier und Bleistift undalles bei mir zu Hause. Ich verstaue die Sachen in Ordnern mit Finanzamtsunterlagen vergangener Jahre. Dort würde sie niemand suchen.«
Die Frau blickte Weiß mit großen Augen an, der sah über sie hinweg in das dunkle Ried, ohne ihren Blick zu bemerken. »Verstecke nützen nichts«, fuhr er fort. »Glaubt einem Polizisten, wenn er euch das sagt: Verstecke nützen nichts. Am besten verborgen bleiben die Dinge, die gar nicht versteckt sind, die offen vor aller Augen liegen …«
»… wie in dieser Geschichte von Edgar Allan Poe«, sagte Kranz, »wie hieß sie noch …«
» Der versteckte Brief oder so ähnlich«, sagte die Frau.
»Wie auch immer, die Sachen stehen bei mir im Arbeitszimmer in langweiligen Steuerberater-Ordnern, einfach so offen im Regal hinter dem Schreibtisch. Das ist das Beste, was man machen kann.«
Sie hatten die Riedhütte erreicht, die Frau servierte Schnaps, eine Solarlampe warf ihr milchiges Licht über den Holztisch. Die Rede kam wieder auf den Direktor Baumann. Kranz machte sich fleißig Notizen.
Sie fassten einen Plan.
Danach brachten sie Ingomar Kranz, der den Weg sonst nicht gefunden hätte, zu seinem Auto zurück. Als die Rücklichter verschwunden waren, sagte sie zu Nathanael:
»Bist du verrückt geworden?« Ihre Stimme klang ruhig.
»Warum?«
»Hättest du ihm nicht noch eine Zeichnung machen können, einen Plan deiner Wohnung?«
»Daran hab ich gedacht, das wäre aber sogar ihm aufgefallen.«
»Was?«
»Meine Liebe, wir müssen uns absichern. Dieser Kranz istnicht böser oder besser als der Durchschnitt … Eines ist aber unübersehbar: Der Herr Redakteur fühlt sich nicht wohl bei uns …«
»… Du meinst, er will abspringen?«
»Er will und er wird, sobald sich die Gelegenheit bietet.«
»Wie kommst du auf die Idee?«
»Mit Körpersprache kennst du dich nicht aus, ich aber schon. Macht der Beruf. Ich kann nicht behaupten, dass ich es jedes Mal merke, wenn einer lügt. Das wäre Unsinn. Ich merke es nur öfter als der Durchschnitt, und meistens nur bei Menschen, die nicht mit der Polizei zu tun haben. Leider. Die anderen, die Stammkunden, lügen viel geschickter …«
»Kranz lügt also?«
»Nein, nicht direkt. Er macht uns nur was vor. Die wahre Meinung des Redakteurs Kranz über die Feme haben wir noch nicht gehört.«
»Und die wäre?«
»Keine Ahnung. Vielleicht sind wir ihm zu radikal. Oder zu wenig ideologisch. Was weiß ich. Er äußert sich ja nicht. Er stimmt immer allem gleich zu. Er hat Angst.«
Die Frau seufzte. »Du hast da sicher mehr Erfahrung, das will ich nicht bestreiten. Aber könnte es nicht sein, dass die Polizei ein bisschen paranoid ist?«
»Natürlich ist die Polizei paranoid. Wenn sie das nicht ist, dann ist sie korrupt. Dazwischen gibt es nichts. Ein gesunder Polizeikörper pflegt eine gesunde Portion Paranoia!«
»Aha.«
»Ja, lach nur …«
»Ich lache gar nicht. Nehmen wir an, du hast recht. Wie willst du das herausfinden?«
»Durch eine Falle.«
Nathanael Weiß erklärte ihr die Falle, deren Aufstellung siemiterlebt hatte, ohne sich dessen bewusst zu werden. Danach sagte sie: »Du bist schlau wie der Teufel,
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