Alles Fleisch ist Gras
welcher Sicherheit er denn die Reaktion des Chefinspektors Weiß voraussehen könne, die nach Galbas Plan einfach darin bestand, dass Weiß den Weg der Umkehr betrat und sein Treiben einstellte. Aber so einen Zuhörer gab es nicht. Für Anton Galba war nicht die Weiß’sche Reaktion das Problem, sondern der Knall an sich – wie er den erzeugen sollte. Mit allen zerstörerischen Begleitphänomenen. Ein technisches Problem. Für jemanden, der nur einen Hammer hat, ist alles andere ein Nagel – aber so ist es halt.
*
Ingomar Kranz verfluchte mehrmals am Tag den Augenblick seiner Schwäche. In diesem Augenblick hatte er sich auf das verrückte Unternehmen der Verbesserung von Dornbirn eingelassen. Der Verbesserung durch … Er verdrängte das Wort, wollte es nicht aussprechen, nicht einmal denken. Es gingauch nicht um dieses eine Mal, es ging nicht um Karasek. Dessen Verschwinden hielt er nach wie vor für einen Segen, aber das war nicht das Problem. Das Problem war der infinite Regress, der sich mit der ersten Aktion auftat wie ein grundloser Schlund. Mit dem Ordnungszahlwort »der, die, das Erste« war die Reihe aufgetan, die sich im Unendlichen verlieren würde, aber Ingomar wollte nicht so lange dabei sein, er wollte nicht einmal beim Zweiten der Reihe beteiligt sein. Er verstand nicht, dass weder Weiß, der doch einen intelligenten Eindruck machte, noch die Frau, die einen noch intelligenteren Eindruck machte, diese einfache Sache nicht zu begreifen schienen: dass es kein Aufhören gab und keines geben konnte, bis Dornbirn in eine menschenleere Wüstenei verwandelt sein würde. Theoretisch. Praktisch würde man ihnen draufkommen, früher oder später. Nach drei Aktionen, vielleicht auch erst nach dreißig. Dann würden beide für dreißig Jahre, eher aber für immer in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher verschwinden, und er, Ingomar Kranz? In einer normalen Strafanstalt, denn geistig abnorm konnte man ihn nicht nennen, und kein Anwalt würde das Gericht überzeugen können, dass er das war. Geistig abnorm. Und eben weil er das nicht war, musste er jetzt handeln. Und aus der Sache aussteigen. Das war kompliziert. Er kannte jemanden aus der »Abteilung für innere Angelegenheiten« in Wien, aber den konnte er nicht einfach anrufen und etwas sagen: »Hör zu, Schurli, wir haben da so einen durchgedrehten Polizisten in Dornbirn, der lässt reihenweise Leute verschwinden, sag, könntet ihr den nicht verhaften, bald einmal, wenn’s geht? Geh, sei so gut!«
Er brauchte hieb- und stichfeste Beweise. Die lagen im Haus des Weiß. Dort musste er sie holen. An das Haus heranzukommen, war kein Problem, das ging von der Rückseite. Er hatte auf einem Spaziergang an der Ach die Lage ausgekundschaftet.Man kam aus dem Wald über einen kleinen Bach dorthin. Das sollte in den langen Nächten kein Problem sein, Zeit hatte er genug. Das Problem war nur, dass er nicht wusste, wann Weiß zu Hause war und wann nicht. Es schien, so viel hatte er durch vorsichtige Recherchen herausbekommen, eine unregelmäßige Abfolge von Übernachtungen in der Stadlerschen Villa und im weit bescheideneren Domizil in der Beethovenstraße zu geben. Wann Weiß wo war, unterlag keiner Regel.
Ingomar Kranz war sich nicht bewusst, dass einige Monate zuvor ein gewisser Hopfner dieselben Überlegungen angestellt hatte. Er wusste zwar von der Existenz Hopfners, aber nichts über die näheren Umstände seines Ablebens, sonst wären ihm bei der Durchführung des Plans gewisse Parallelen aufgefallen. Aber Ingomar hatte entgegen seiner journalistischen Ader nicht nachgefragt, denn er wollte mit den blutigen Details nicht allzu vertraut werden. Das Video hatte ihm genügt. An seine eigene, einmalige Beteiligung dachte er nicht zurück, was ihm leichter fiel, als er befürchtet hatte. Er verstand jetzt auch die Totalamnesie der Weltkriegsveteranen, die er in seiner Studentenzeit als unerträgliche Heuchelei gebrandmarkt hatte – wer gewisse Dinge nicht so wirkungsvoll verdrängen konnte, dass es einem Vergessen gleichkam, einer chemischen Löschung im Gehirn, der konnte nicht ohne massive Probleme weiterleben. Massive Probleme anderer Art würde er bekommen, wenn er sich nicht um Weiß kümmerte und die Dinge schleifen ließ. Als Einbrecher war er nicht geeignet, das wusste er. Es fehlten alle Voraussetzungen. Die Kaltblütigkeit einerseits, das technische Wissen andererseits. Wo nahmen das die Berufseinbrecher her? Aus dem Gefängnis natürlich.
Weitere Kostenlose Bücher