Alles Fleisch ist Gras
klein waren, den Nikolaus gegeben, noch je einen engagiert hatte. Nach dem Kostüm fragen würde ihn nur ein Bekannter; der würde dann aber auch fragen: Ach, das ist aber nett! In welchem Kinderheim denn? Und so weiter. Als glaubhaftes Nikoloereignis blieb der eigene Betrieb – vorausgesetzt, der Bekannte stammte nicht aus ebendiesem. Aber alle Risiken konnte er nicht ausschalten.
Ingomar hätte die Geschichte aus Gründen erwachender Paranoia nicht geglaubt. Vielmehr wäre ihm die unheimliche Koinzidenz ihrer beider Einkäufe aufgefallen. Santa Claus und Nikolaus. Aber auch Galba hätte sich über das Kostüm im anderen Wagen gewundert; danach gefragt, wäre Ingomar ins Schwimmen gekommen, was wiederum den Ingenieur zum Nachdenken gebracht und vielleicht von seinem Plan hätte Abstand nehmen lassen.
Aber durch die Kontaktverweigerung ist es eben nicht so gekommen, und die Dinge nahmen ihren Lauf. Beide fuhren im Abstand einer halben Stunde vom überfüllten Parkplatz weg, Ingomar Kranz nach Hause, Anton Galba in den Betrieb, wo er nicht nur das Bischofsgewand, sondern auch mehrere Getränkekartons und andere Utensilien aus dem Wagen in sein Büro schleppte. Dort begann er eine recht vorweihnachtliche Tätigkeit. Er packte Geschenke ein.
Zwei Tage später nahm der Winter einen neuen Anlauf. Schon am Vormittag begann es zu schneien. Große, schwere Flocken zuerst; im Lauf des Nachmittags wurden sie leichter, fielen dichter, der Schnee blieb liegen. Es war der 5. Dezember. Die Nikoläuse waren zum ersten Mal seit Jahren im Schneetreiben unterwegs; in Begleitung von Engeln oder mürrischen Ruprechtfiguren, die satanischen Krampusfiguren waren mit der schwarzen Pädagogik fast ausgestorben. Es schneite die ganze Nacht durch.
Gegen eins hatte die Schneedecke eine solche Mächtigkeit angenommen, das Schneetreiben eine solche Intensität, dass dem ärgsten Zyniker ob der geballten Erzeugung echter, gewissermaßen naturidenter Vorweihnachtsstimmung nicht anders als wunderlich ums Herz werden konnte; dieser Zyniker hätte dann auch die Figur eines einsamen Wanderers, der sich durch die Schneeverwehungen in der Beethovenstraßekämpfte, für den echten heiligen Nikolaus von Myra gehalten, so überzeugend war das Bischofsornat – es störten nur die geäußerten Flüche in alemannischer Mundart, die klarmachten, dass hier jemand in Verkleidung seinem wohltätigen Geschäft nachging, behindert allerdings durch Straßenverhältnisse, mit denen sich der Originalbischof aus der Südtürkei wohl nie hatte herumschlagen müssen. Unter der Schneedecke lauerte eine Glatteisschicht.
Ich bin völlig verrückt, dachte Anton Galba. Ich sollte hier nicht gehen. Es ist zu gefährlich. Der Bischof trug eine große Reisetasche. Er ging gebückt, so dass der Boden der Tasche nur Zentimeter über dem frischen Schnee schwebte, das war auch gut so, weil sie dann, wenn er selber fiel, wohl auch fallen würde, aber nicht tief. Und sehr weich landen. Das war wichtig. In der Tasche befanden sich lauter Flaschen, jede in Geschenkpapier gewickelt und mit einem Kärtchen versehen. Darauf stand:
Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr
wünscht der Nikolaus von der Beethovenstraße!
Der Nikolaus von der Beethovenstraße kämpfte sich von einem Haus zum anderen und stellte vor jede Haustür eine der Flaschen. Alle enthielten Wermut, nur eine nicht. Auf dieser stand zwar Vermouth drauf, es war aber keiner drin. Der Nikolaus hatte sie so gekennzeichnet, dass er sie auch im Dunkeln von den anderen unterscheiden konnte. Es kam sehr darauf an, eine Verwechslung zu vermeiden.
Der Nikolaus, der echter aussah als der andere Nikolaus, der vor Stunden in der Beethovenstraße zwei Familien besuchte hatte – Rhomberg auf Nummer 4 und Ganahl auf 17 – der falsche Nikolaus also beendete seine Tour ohne Zwischenfälle und ohne einem einzigen Menschen zu begegnen. Inmanchen Häusern brannte noch Licht hinter einem oder zwei Fenstern, die meisten lagen im Dunkel. Die Nummer 20 gehörte zu den dunklen Häusern. Nathanael Weiß saß im Vorraum und lauschte. Aber er hörte nichts vom Nikolaus mit seiner alkoholischen Gabe, jedes Geräusch dämpfte der Schnee. Nathanael Weiß erwartete auch nichts von der Vorder-, sondern etwas von der Rückseite des Hauses, das Krachen von Holz, wenn jemand, der das noch nie gemacht hat, eine Tür aufbricht und dabei unnötigen Lärm erzeugt. In dieser Nacht blieb das Geräusch aus, Nathanael nahm es mit Gelassenheit. Er
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