Alles Fleisch ist Gras
Brecheisens nach Bludenz oder Lindau zu fahren. Das war genauso unsicher oder sicher wie der Einkauf im BayWa Bau & Gartenmarkt . Er war nicht geeignet für die Aufgabe, die er zu erfüllen hatte, mental wie physisch der falsche Mann. Das konnte er nicht ändern. Aber: Er plante keine Karriere als Berufsverbrecher. Es ging um ein einziges Mal. Da konnte er auch Glück haben.
Als er die Schlangen am Ausgang sah, beruhigte er sich. Er beobachtete eine Zeitlang die Damen hinter den Kassen. Sie widmeten ihre Aufmerksamkeit nur ungern den Menschen am Förderband, weil sie, die Aufmerksamkeit, von den Dingen auf dem Förderband beansprucht war. Voll und ganz. Benedikt XVI. hätte hier vorbeigehen können, vor sich eine Kettensäge um hundertneunundzwanzig achtzig, es wäre der Kassiererin nicht aufgefallen, solang sie mit ihrem Handscanner gleich das Preisschild fand.
Es war kurz nach vier. Kurz vor vier hatte ein Massenansturm eingesetzt, dann fiel eine Kasse aus, die Schlangen an den anderen drei wurden länger. Ingomar hatte keine Lust, so lang zu warten, er hasste das Schlangestehen wie alle Situationen, in denen sich körperliche Nähe zu anderen Menschennicht vermeiden ließ. Er drehte den Wagen um. In der Bauabteilung hatte es ruhig ausgesehen, dort konnte er eine Viertelstunde oder so vertrödeln, bis der ärgste Stau behoben war. Auf dem Weg in den hinteren Teil des Marktes kam er wieder am weihnachtsaffinen Sonderstand vorbei. Das Bischofskostüm war weg. Er suchte nach einem zweiten Exemplar, aber das schien es nicht zu geben. Jemand hatte das Ornat des heiligen Nikolaus von Myra gekauft. Innerhalb der letzten zwanzig Minuten.
Ingomar fand es seltsam, dachte aber nicht weiter darüber nach. Worüber er länger nachdachte, war die Gestalt von Dipl.-Ing. Anton Galba, die vor ihm, einen Einkaufswagen schiebend, in einen Quergang einbog. Ingomar blieb stehen und setzte sich in der Richtung in Bewegung, die ihn vom vermuteten Kurs des Anton Galba möglichst schnell fortführen würde. Das gelang auch. Die Fast-Begegnung irritierte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Er lenkte den Wagen ins angebaute Gewächshaus, wo er in der Palmenabteilung hinter den mannshohen Exemplaren Schutz suchte; dort blieb er stehen, faltete das Santa-Kostüm auf einen kleinen Packen zusammen, den er, so gut es ging, unter der Werkzeugtasche verbarg, gemeinsam mit dem Geißfuß. Dann suchte er eine halbe Stunde zwischen den Topfpflanzen herum, wobei er die Türen im Auge behielt. Aber Anton Galba erschien nicht, auch nicht Galbas Frau. Ingomar bedauerte, dass er keinen Blick in Galbas Wagen hatte werfen können – es gab natürlich tausend mögliche Konsumwünsche und also Gründe für dessen Anwesenheit in diesem Bau- und Gartenmarkt. Konnte man die Zufälligkeit ihres gleichzeitigen Besuchs irgendwie ausrechnen? Wahrscheinlich nicht. Allmählich beruhigte sich Ingomar. Wenn man in New York auf der Straße dem Nachbarn begegnet, freut man sich über den wahnsinnigen Zufall (oderauch nicht), aber niemand denkt an eine Verschwörung. Warum sollte er dann hinter der viel gewöhnlicheren Begegnung in einem außerhalb Dornbirns gelegenen Baumarkt etwas Böses vermuten? Das ist wohl Paranoia, dachte er, so fängt es an, es wird Zeit, dass sie an ein Ende kommt, die ganze Sache. Er kaufte eine weitere Topfpflanze als zusätzliche Tarnung seiner Einkäufe und schob den Wagen zur Kasse.
Galba war fort. Er sollte ihn nie wiedersehen.
Denn man kann es drehen und wenden, wie man will, wahr bleibt: Für Ingomar Kranz wäre es günstiger gewesen, im BayWa Bau & Gartenmarkt die Konfrontation mit Dipl.-Ing. Galba zu suchen, ihm mit dem eigenen Wagen den Weg abzuschneiden, ihn zu begrüßen, ein Gespräch zu beginnen. Dann hätte er unweigerlich einen Blick auf Galbas Einkäufe geworfen, und es wäre ihm das Bischofsgewand aufgefallen, das der zehn Minuten, nachdem es Ingomar bewundert hatte, gekauft hatte. Anton Galba hätte dann die mühsam zurechtgebastelte Tarnlegende von einer Nikolofeier (in der Abwasserreinigungsanlage! Ausgerechnet!) von sich gegeben, und Ingomar hätte sie nicht geglaubt. Anton Galba war nach langem Überlegen nichts Besseres eingefallen – natürlich hätte eine Nikolausbescherung in einem Kinderheim besser geklungen und wäre von einem Mann, der schon seit zwanzig Jahren am Abend des 5. Dezember die Kinder auf solche Art erfreut, anstandslos geglaubt worden, aber nicht ihm, der weder seinen eigenen Kindern, als sie
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