Alles Fleisch ist Gras
verfügte über Polizeigeduld.
Nathanael befand sich auf einem Fortbildungskurs in Niederösterreich, etwas mit Terrorabwehr, weshalb das Ganze hochgeheim organisiert wurde und bei Strafe schwerer Disziplinarmaßnahmen nicht einmal den engsten Familienangehörigen etwas über Ort und Inhalt mitgeteilt werden durfte. Adele hatte es eingesehen. Nathanael Weiß log so geschickt, dass er während der Mitteilung dieser Tarnlegende selber an den Terrorabwehrkurs glaubte; er sah sogar die Gebäude vor sich, eine von außen abgehalfterte, innen aber hochmodern adaptierte Kaserne aus der Nazizeit im nördlichen Waldviertel. Bei diesem Kurs hätte er allerlei gelernt, davon war er überzeugt. Die Wirklichkeit verlief prosaisch und geheimnislos. Er saß den ganzen Tag in seinem alten Wohnhaus, ernährte sich aus Büchsen und ließ sich nicht blicken. Die Erdwärmepumpe lief von außen unhörbar, Feuer machte er keines, auch kein Licht. Er verließ das Haus nur in aller Frühe, zur Stunde des Wolfs, um sich im Wald die Beine zu vertreten. Wenn Ingomar Kranz seinen unausweichlichen Besuch zu dieser Zeit absolvieren sollte, dann wäre das großes Pech, aber Nathanael schätzte das Risiko dafür gering ein; ein nachtarbeitender Intellektueller wie Kranz würde für sein Abenteuernicht um vier aufstehen, am absoluten Tiefpunkt seines Biorhythmus.
Nathanael hatte die Überwachung am 2. Dezember begonnen. Die Freigräfin meinte, er werde nicht allzu lange warten müssen. Er hatte massive Zweifel.
Am Morgen des 6. Dezember bemerkte Nathanael noch die freundliche Gabe des »Nikolaus von der Beethovenstraße«, als er das Haus zum Waldspaziergang verließ. Sein Misstrauen war sofort geweckt, als er den Karton auf der Fußmatte erblickte, es wurde aber durch die gleichgearteten Kartons auf den Fußmatten der Nachbarhäuser gemildert. Es war nicht ungewöhnlich, dass im Advent Nachbarn sich Kekse und Kuchen schenkten, auch Selbstgebrannten; diesmal war der Spender eben anonym geblieben, auch das kam vor. Italienischer Wermut, warum nicht. Er nahm die Flasche ins Haus. Stunden später entdeckten auch die übrigen Anwohner die weihnachtliche Gabe und freuten oder ärgerten sich, wie es dem jeweiligen Naturell entsprach. Um die Mittagszeit fuhr Anton Galba im Wintermantel und mit Hut so langsam durch die Beethovenstraße, dass er die Annahme seines Geschenks kontrollieren konnte. Um den Mund hatte er einen Schal geschlungen, er war unkenntlich, aber auffällig. Ein Passant – er sah keinen – konnte sich denken, dass in diesem Auto die Heizung kaputt war. So etwas kam vor, der Gedanke tröstete ihn. Alle Flaschen waren weg, auch die vor Nummer 20. Das erleichterte ihn. Die Anspannung der letzten Tage ließ nach. Nathanael Weiß hatte die Flasche ins Haus genommen. Wo genau im Haus sie dann stand, war unerheblich; sie war drin, darauf kam es an. Wenn sie drin war, die Flasche, würde die umfassende Wirkung unabhängig vom spezifischen Standort einsetzen. Jetzt hieß es, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Er würde einfach bei der Polizei anrufen und ChefinspektorWeiß verlangen. Er hatte sich für diesen Anruf ein Wertkartenhandy gekauft. Von diesem Handy würde er nur einen einzigen Anruf tätigen, nämlich diesen einen an Weiß, und auflegen, sobald sein Schulfreund sich meldete. Im selben Augenblick – oder nur Sekunden später – würde er einen Knopf an einer kleinen Apparatur drücken. Die Reichweite betrug gut dreihundert Meter, er würde zum Zeitpunkt des Anrufs und nachfolgenden Knopfdrückens etwa zweihundert Meter vom Haus in der Beethovenstraße entfernt sein. Im Wald. Und wenn Weiß nicht zu sprechen war? Dann würde er eben später anrufen, ganz einfach. Es ging ja nur darum, sicherzustellen, dass sich der Polizist nicht in seinem Haus befand, wenn der Schulfreund den kleinen Knopf drückte. Weiter dachte er nicht darüber nach.
Am selben Tag gegen drei verließ er sein Büro in der Abwasserreinigungsanlage und marschierte in den Wald. Es war nicht weit bis zum Hochstand. Er blieb unten stehen; er hatte keine Lust, die drei Meter hinaufzusteigen. An diesem Punkt hatte das ganze Unglück begonnen, sein Unglück und das so vieler anderer Menschen. Hätte ihn Mathis hier nicht gefilmt, dann hätte es einen zunehmend mürrischer und schwieriger werdenden Mitarbeiter Mathis gegeben, aber keine Erpressung. Ohne Erpressung hätte es keinen Unfall gegeben, ohne Unfall keinen Nathanael Weiß und auch sonst niemanden von seinem
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