Alles Fleisch ist Gras
zusammenzusitzen. Zusammenzusitzen in einem Kaffeehaus wie Leute, die sich von der Arbeit kennen, Kollegin und Kollege, sich auf dem Wochenmarkt begegnet sind, eine Tasse trinken und plaudern. Aber er kannte Adele nicht aus der Buchhaltung. Er war acht Jahre mit ihr verheiratet gewesen.
Und sie hatten sich auch nicht zufällig am Wochenmarkt getroffen (er hasste den Wochenmarkt und ging nie hin), sondern sie hatte ihn angerufen, um ein Treffen gebeten. Wenn man die Vorgeschichte so zusammenfasst, dachte NathanaelWeiß, ist die Wahrscheinlichkeit eines solchen Treffens fast null; wenn es aber doch stattfindet, der gehörnte Ehemann also brav antrabt, ist wiederum die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei ebendiesem um einen gerichtlich vereidigten Volltrottel handelt, fast hundert Prozent. Obwohl nun er dieser Trottel sein sollte, kam er sich durchaus nicht so vor. Der Statistik kann man einfach nicht trauen, dachte er, und dann, wieso er hier saß, vor dem kalt gewordenen Kaffee, den zu trinken ihn etwas Undefinierbares abgehalten hatte; wieso er hier saß und schwieg, während sich ein sanfter Strom leiser Klagen über ihn ergoss wie der ärmliche Strahl einer Hoteldusche in einer unter endemischem Wassermangel leidenden Urlaubsdestination, sanft, lauwarm und leicht nach Rost schmeckend; warum er hier saß und diese Klagen, die ausschließlich Ludwig Stadler betrafen, nicht mit einer Bemerkung, einem Aha oder Ach! unterbrach oder einer Zwischenfrage oder besser nicht mit einer Zwischen-, sondern der Endfrage, die so hieß, weil sie das Gespräch beenden würde: was zum Geier ihn, Nathanael Weiß, denn ihre Probleme mit diesem Arschloch Stadler angingen? Und ob sie wohl noch bei Trost … Aber da würde die Frage dann schon in einen Ausbruch berechtigter Empörung umschlagen, und Adele würde etwas hervorzischen, was er nicht mehr verstehen würde, weil er selber immer lauter geworden wäre, sie würde, blass geworden, aufstehen, ihren Kaffee an der Theke zahlen und ihn in diesem Leben nicht mehr anrufen.
Nathanael Weiß kannte keinen Mann, der sich in dieser Situation so verhalten hätte, wie er sich verhielt. Dasitzen, zuhören. Aber all die normalen Männer kannten und liebten Adele nicht. Er aber kannte Adele. Und er liebte sie.
Sie hatte ihn belogen und betrogen. Monatelang. Und natürlich hatten es alle gewusst, nur er nicht. Dann Aussprache,einvernehmliche Scheidung wegen Zerrüttung oder so … Er erinnerte sich nicht mehr. Sie hatte ihm den größten Schmerz seines Lebens zugefügt, den größten denkbaren Verrat begangen, dennoch liebte er sie. Alles an ihr. Ihre Haare, ihre Augen, ihren Mund, aber auch ihr Wesen, ihr Lachen. Das klang vollkommen verrückt, er wusste das, obwohl es die reine Wahrheit war: Er hatte ihr nie einen Vorwurf gemacht, sie immer entschuldigt. Sie war verführt worden. Jawohl, von dem Bauunternehmer Ludwig Stadler. Ausgerechnet. Er durfte nicht einmal im Denken lang bei diesem Punkt verweilen, sonst würde er erst anfangen zu lachen, das wusste er, und dann anfangen zu verzweifeln. Die Verführungsthese war in ihrer platten Eindeutigkeit nicht einmal in dem Jahrhundert, aus dem sie stammte, glaubhaft gewesen; für ihn war sie ein einsichtiges Konstrukt, luzide und logisch, keine These, sondern Tatsachenbeschreibung wie eine Tatorterhebung. Die Beweise sind Facta und so weiter. Und wenn dies so gewesen war mit der Verführung durch den Bauunternehmer Stadler, dann hatte er, Nathanael Weiß, noch einen Platz im Universum, dann hatte er eben deshalb (des vorhandenen Platzes wegen) auch noch eine Existenzberechtigung. Es lag dann nämlich nicht an ihm, dass alles so gekommen war, wie es gekommen war, sondern an Umständen . Ein reicher Bauunternehmer ist immer ein Umstand.
Freilich hätte es der Verführungsthese gutgetan, wenn sie von irgendwelchen empirischen Daten gestützt worden wäre. Statt solcher Daten gab es aber nur Gerüchte, Klatschgeschichten. Es war ihm sehr schwergefallen, sie zu erfahren; es hatte eines gehörigen Maßes an Verstellung bedurft, vor den Kollegen jenen abgeklärten, uninteressierten Ehekrüppel zu spielen, dem der Seitensprung der Frau sogar gelegen kommt, wenn er dazu führt, eine nervende Verbindung zu beenden. Sohatte er dann nach Monaten tropfenweise mitbekommen, dass Stadler in der Dornbirner Gesellschaft als Schürzenjäger galt, es gab Hinweise. Aber zu Verdachtsmomenten verdichten lassen hatte sich dies erst vom Kollegen Hiebeler, der besagten
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