Alles Fleisch ist Gras
Aufnahmen wüsste, alle Hebel in Bewegung setzen, um in ihren Besitz zu kommen. So wie der Dipl.-Ing. Anton Galba alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte. Zum Beispiel jenen in der unauffälligen, an den Gärturm 1 angebauten Blechhütte; jenen Hebel, der nur zwei Stellungen einnehmen konnte, bequemerweise mit on und off bezeichnet, damit wurde eine Art Mahlwerk in Gang gesetzt, und alles, was man durch den großzügig dimensionierten Trichter hineinwarf, wandelte sich in Sekundenschnelle in Matsch. In blutig rot aufspritzenden, dampfenden Matsch …
Er hatte sich diese kleine Hütte schon am ersten Tag angesehen. Bei Ermittlungen galt derselbe Grundsatz wie beimSehen unter schlechten Sichtverhältnissen: Es kam darauf an, nicht den Gegenstand zu fixieren, sondern einen Punkt dicht daneben, dort war die Stelle schärfsten Sehens. Und oft gab es dicht daneben ein Detail, das zur Lösung führte … Einen Tag später war eine Portion Hühnerteile, die aus unerfindlichen Gründen eine Unterbrechung der Kühlkette erlitten hatte, durch denselben Trichter geflogen, ein halber Lastwagen voll, das hatte er recherchiert. Mit den Hühnern war die Anlage geputzt worden. So hatte sich Galba das wohl vorgestellt. Gut, er konnte über die neuesten Methoden der Kriminalistik nicht Bescheid wissen. Irgendwas bleibt immer zurück, in Winkeln und Ecken der Apparatur, besonders Blut. Und Blut ist nicht gleich Blut. Menschliches ist vom tierischen leicht zu unterscheiden. Und was heißt hier: menschlich ? Das geht heute genauer. Letzten Endes genügt eine einzige Zelle von den Milliarden Zellen, die den sicher eher achtzig als siebzig Kilo schweren Körper des rechtsradikalen Laboranten Mathis aufgebaut hatten, nur eine einzige … Aber das war nicht der Punkt.
Der Punkt war … Er wusste es selber nicht genau. Etwas hatte ihn zögern lassen. Er müsste nur eine Horde Spezialisten diese Mühle auseinandernehmen lassen, Mathis’sche DNS nachweisen. Das in Verbindung mit den Fotos. Wer war die Frau? Wahrscheinlich diese Sieber, die Laborantin. Techniker wie Galba waren in ihrem Verhalten noch eingeschränkter als der Rest der ansässigen Bevölkerung. Die Affäre am Arbeitsplatz, bequem und praktisch. Die Arbeit geht vor. Keine Zeit für komplizierte Treffen mit entfernten Ehebruchspartnern. Wie alt war die, fünfundzwanzig? Er müsste sie nur ein bisschen unter Druck setzen … eine Affäre am Arbeitsplatz. Praktischerweise arbeitet dort auch der heimliche Rivale, der dem leicht slawisch angehauchten Chef die nordische Göttin nichtgönnt – vielleicht aber ohne alles nordische Brimborium ordinäre Eifersucht. Nachschleichen, Fotos machen, erpressen. Auseinandersetzung, Handgemenge, Unfall, bumm. An Vorsatz glaubte er nicht. Diese Techniker waren keine Mörder. Eine Tötung unterlief ihnen wie eine falsche Kalibrierung an einem Messgerät, weil sie einen schlechten Tag hatten. Föhn. Oder einfach Pech. Dann aber Panik, Leiche verschwinden lassen, wozu eben die Gelegenheit bestand, die andere Leute nicht hatten. So hatte es sich abgespielt. Was jetzt daraus wurde, ließ sich schwer abschätzen. Wenn Galba stur blieb, wurde es ein blöder Indizienprozess. Er müsste jetzt nur methodisch vorgehen. Und sich an diese Sieber halten. Aber dazu hatte er keine Lust. Er hatte einfach keine Lust.
»Es ist ekelhaft«, sagte Adele. Sie sprach jetzt lauter. »Siehst du, ich will damit nichts erreichen …« Sie deutete auf die Fotos, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Sie hatten beide versäumt, sie wieder in den Umschlag zu stecken, obwohl die Konditorei sich füllte.
»Wie meinst du das, nichts erreichen?«
»Scheidung, einen Prozess, diese Dinge … Es ist nötig als Beweis, ich weiß, aber …« Sie verstummte.
»Aber was?«
»Aber dadurch wird nichts besser, verstehst du? Ich möchte mit ihm nichts mehr zu tun haben. Ihn nicht mehr sehen müssen, nichts mehr von ihm hören müssen. Am liebsten wäre mir …«
»Ja?«
»… wenn er … wenn er weg wäre. Verschwunden. Und nie mehr auftaucht.«
Sie begann zu weinen, ansatzlos, mitten im Lokal. Er nahm ihre Hand und streichelte sie. Dazu musste sie ihre Hand ausstrecken und er seine. In die Mitte des Tisches. Er sagtenichts, ließ sie weinen, bis alle anderen es gemerkt hatten und nach einer Schrecksekunde der Stille der Geräuschpegel sich hob, weil jeder bemüht war, durch lauteres Reden, Zeitungsrascheln oder Tassengeschepper die unglaubliche Taktlosigkeit zu übertönen, mitten in einem
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