Alles Fleisch ist Gras
vollbesetzten Kaffeehaus, mitten am Tage in Tränen auszubrechen – dass es dabei nicht um einen Heiratsantrag ging, konnte man dem Weinen anhören, es klang nicht laut, aber verzweifelt. Eine Trennung war es auch nicht, sie hätte ihm das Händestreicheln nicht gestattet; also war der Auslöser eine dritte, nicht anwesende Person. Vielleicht war jemand gestorben oder stand davor. In jedem Fall durfte man die Szene als Beweis der Tatsache deuten, dass unser aller Leben wenig Spaß macht und schlecht ausgeht; so etwas will niemand sehen.
Nathanael Weiß spürte die Unruhe, die seine Frau verbreitete, aber das war ihm gleichgültig. In seinem Kopf drehte sich eine Wortkette um und um, das letzte Wort war wieder ans erste angebunden, ein Gedankenrest, kein richtiger Satz, aber etwas, das sie gesagt hatte … weg wäre … verschwunden … nie mehr auftaucht … weg wäre …
In diesem Augenblick erkannte er eine Grundbestimmung seines Lebens. Dass alles in diesem Leben, was schiefgelaufen war und -lief, was Sorgen und Kummer machte, sich aus einem einzigen Punkt erklären ließ. Aus der schieren Existenz bestimmter Personen.
Nicht Dummheit oder Arroganz oder andere Charaktereigenschaften stellten das Problem dar, auch nicht die sogenannten Todsünden wie Neid, Hass und so weiter – sondern einzig und allein die Personen, denen diese Eigenschaften anhafteten wie Teer. Wenn sie verschwinden würden, dann würden auch die Probleme verschwinden. Ein simpler Gedanke und auch nicht neu. Der erste Vormensch, der ihn im fernenAfrika gefasst hatte, wagte den aufrechten Gang nur an hohen Feiertagen. Und es gab, das musste man zugeben, bei der Umsetzung massive Probleme, die manchmal den seelischen Gewinn zunichtemachten. Wenn man aber all die konkreten Umstände wegließ, den Gedanken bis auf seinen Kern abschälte, blieb denn dann etwas anderes als die schlichte – Wahrheit?
»Ich denk mir was aus«, sagte er mit leiser Stimme zu seiner Exfrau. Das beruhigte sie. Er winkte der Bedienung und zahlte. Sie gingen ohne ein weiteres Wort und ließen ein Kaffeehaus hinter sich, in dem sich die Erleichterung ausbreitete wie der Duft einer warmen Backstube.
3
Nathanael Weiß hatte sich verändert, fand er. Etwas stimmte nicht. Der Chefinspektor hatte schlechte Laune. Sie machten einen »Spaziergang«, wie er das nannte, Weiß und er, der Chefinspektor und der Betriebsleiter, und gingen genau die Wege in der Au, die er so oft mit Helga gegangen war.
Dieses Mal gab es kein Abtasten, kein freundliches Herumreden. Weiß hatte lang geschwiegen, war dann aber mit wenigen, entsetzlichen Sätzen gleich zur Sache gekommen: dass es für ihn, Galba, schlecht aussehe. Noch habe er die Sieber nicht vernommen (Galba schauderte bei der Formulierung – nur an zwei Orten reduzierte man im Deutschen die Menschen auf Artikel mit Familiennamen: im Theater und bei der Polizei); aber diese Vernehmung stehe unmittelbar bevor, über das Ergebnis hege er, Weiß, keine Zweifel. Sie werde die Affäre mit Galba zugeben und ihn auf den grünen Fotos identifizieren. Und damit habe er ein Motiv – Galba, nicht Weiß.
Aber keine Leiche, sagte Galba, eine Leiche habe er, Weiß, nicht. Das sei schon wahr, erwiderte Weiß, aber man sei nicht mehr im Mittelalter, wo es auf ein Geständnis angekommen sei; der Vorteil liege für den Verdächtigen darin, dass es keine Folter mehr gebe, um eines zu erpressen, ein Geständnis nämlich, der Nachteil, dass der Staat in Fällen wie diesem nicht einfach zur Tagesordnung übergehe und mit den Schultern zucke, metaphorisch gesprochen.
Du kannst es nicht beweisen, sagte Galba.
Mag sein, sagte Weiß, es sind alles nur Indizien, stimmtschon. Aber es bestehen massive Verdachtsmomente und Verdunkelungsgefahr, also ist Untersuchungshaft angebracht.
Galba blieb stehen. Du willst mich also verhaften?
Nein, sagte Weiß, will ich nicht. Es kommt bei diesen Dingen sehr auf die Darstellung der Umstände an. Den Stein ins Rollen brächte die Einvernahme von Helga Sieber.
»Du hast doch mit ihr gesprochen wegen der Fotos?«
»Nein, hab ich nicht.«
»Sicher nicht?«
»Wenn ich es doch sage!«
Sie gingen weiter, Weiß schien zufrieden zu sein. Anton Galba war verblüfft. Mit Helga hatte Galba seit dem Ausflug auf den Gärturm nicht gesprochen. Das war zwei Tage her.
»Ich hab auch nicht mit ihr gesprochen, außerdienstlich«, sagte er.
»Tatsache?«
»Frag sie doch!«
»Sie ist nicht die Frau auf den Fotos?«
»Ich habe
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