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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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…«
    »Verstehe.«
    Das war geradezu genial. Instinktiv hatte er mit seinem wolkigen Gefasel den Befindlichkeitskern eines Vorarlberger Betriebsleiters getroffen: Wir hängen es nicht an die große Glocke, dass der Mathis ein ziemlicher Nazi war, sonst fällt das auf den Betriebsleiter Galba zurück – der hat ihn eingestellt. Schlechtes Licht auf den Betrieb hieß einfach nur schlechtes Licht auf den Betriebsleiter. Und die Politiker, denen er seine Anstellung verdankte. Natürlich hatte Mathis keine rechte Propaganda verbreitet – oder doch, ja, stimmt schon, wenn man jedes Wort gegen Ausländer auf die Goldwaage legte – aber nicht in einem betriebsbehindernden Ausmaß. Dipl.-Ing. Galba fürchtete sich, dass die Abweichungen des Roland Mathis herauskamen: Dieser Eindruck musste bei Helga entstehen. Eine biedere, aus den Verhältnissen des Landes erklärbare Furcht, die sie auch dem ermittelnden Chefinspektor Weiß gern mitteilen durfte. Aber der Ing. Galba fürchtete sich nicht, weil er etwa besagten Mathis um die Ecke gebracht hatte.
    »Ach was«, sagte er und stand auf. »Erzähl ihm einfach, was du für richtig hältst. Wenn er dich überhaupt fragt, meine ich. Auch das mit den komischen Ansichten vom Mathis. Wegen Ausländer und so … Sonst heißt es noch, ich will etwas unter den Teppich kehren. Wer weiß, was da noch rauskommt.«
    »Ja, mach ich«, sagte sie. Es klang unbeschwert. Wenn sie ihm etwas vormachte, tat sie das mit großem Talent, er musstesich das eingestehen. Sie stand auch auf, er ordnete ein paar Papiere auf dem Schreibtisch, deren Durcheinandersein ihm in ebendiesem Augenblick aufgefallen war, was keinen Aufschub duldete und ihn daran hinderte, sie anzusehen und mit den Augen eine jener wortlosen Abmachungen zu treffen, die er bis zum Auftauchen der Fotos so genossen hatte. Er blickte erst auf, als sie wieder draußen war. Mit der Enttäuschung musste sie wohl fertig werden, er hatte momentan keine Lust. Einfach keine Lust. Ja, so konnte man das sagen. Ihm war nicht nach Sex, gar nicht.

    *

    Sie saßen sich im Kaffeehaus gegenüber. Nathanael Weiß überlegte, wann sie das letzte Mal so zusammengesessen waren, so nahe und gleichzeitig so distanziert. Er konnte sich nicht erinnern, es war lange her. Sie telefonierten miteinander, regelmäßig, doch, ja, das konnte man sagen. Alle zwei Wochen oder so. Nur hatte sie beim Telefonieren noch nie geweint.
    Sie rührte in ihrer Kaffeetasse. Sie rührte schon recht lang darin herum, die Milch war längst gleich verteilt, gleicher ging es gar nicht; es handelte sich um eine jener Angewohnheiten, die er vermisste. Von Bekannten hörte er, dass sie sich wegen solcher Kleinigkeiten scheiden ließen, wenn man nachfragte, kam als Erstes immer ein lächerliches Detail – nur die sprichwörtliche nicht ausgedrückte Zahnpastatube kam nie, aber sonst jeder Blödsinn, den man sich ausdenken konnte. Manchmal glaubte er, der einzig erwachsene Mensch unter lauter Vierjährigen zu sein, die sich trennten, weil einer dem anderen sein Schäufelchen weggenommen hatte. Affären kamen auch vor, aber erst im Nachhinein, als Symptom, wenn schon sinnloses Kaffeeumrühren oder eine spezifisch idiotische Art, voneinem Brot abzubeißen, zur heillosen Zerrüttung der Ehe geführt hatten.
    Bei ihm und Adele hatte es einen klassischen Verlauf genommen; sie hatte ihn wegen eines anderen verlassen. Vor drei Jahren. Wegen eines Mannes namens Stadler, an dem Nathanael Weiß auch bei genauer Betrachtung nichts hatte entdecken können, was auf irgendwelche Überlegenheit wies. Stadler sah nicht besser aus, war nicht jünger, nicht gebildeter, wahrscheinlich kaum charmanter (das zu beurteilen, war allerdings schwierig) … Nun gut, eine Überlegenheit existierte sicher. Stadler war bedeutend reicher als Chefinspektor Weiß. Er führte eine alteingesessene Baufirma, deren protzige Tafeln bei fast jedem kommunalen Bauplatz aufragten. Stadler-Bau. Wenn Reichtum bei Adele eine so ausschlaggebende Rolle spielen sollte, dann hatte er einen Aspekt ihres Charakters gar nicht wahrgenommen, das musste er zugeben.
    Jetzt saß sie vor ihm und wirkte gefasst. Aber ihre Augen waren gerötet. Er fühlte sich unbehaglich. Wenn sie weinte, war es etwas Gravierendes. Ihre Mutter. Das Verhältnis war nicht gut, seines zu ihr war miserabel gewesen. Und krank war die Mutter auch. Seit dem Tod des Vaters dauernd, einmal mehr, einmal weniger.
    Es war ein merkwürdiges Gefühl, mit Adele

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