Alles Fleisch ist Gras
schief. Das blieb so, bis jemand kam und es geraderückte, erst dann war der rechte Zustand wiederhergestellt.
Eine Woche später rief ihn die Frau an. Sie nannte ihm einen Platz im Dornbirner Ried, eine Fußgängerbrücke über einen Riedgraben, er kannte die Stelle und sagte zu.
Die Frau, wer immer sie sein mochte, meinte es ernst. Sie war verrückt, so viel ließ sich sagen. So verrückt wie er selber. Es gab da nur einen Unterschied, er dachte darüber nach, als er mit seinem Privatwagen ins Ried hinausfuhr: Ihn hatte der gute Toni Galba auf die Sache gebracht, nichts sonst. Keine Versenkung in die Rechtsgeschichte, keine Mittelalterschwärmerei, sondern der schlichte Anlass und die Gelegenheit – und ja, das auch – das drängende persönliche Problem mit einem gewissen Herrn Stadler, der es gewagt hatte, seine schmierigen Finger nach der wunderschönen Adele auszustrecken, und nicht nur auszustrecken, nein, er hatte sie auch … Nathanael Weiß holte tief Luft, nahm den Fuß vom Gas, ließ den Wagen ausrollen. Rote Punkte tanzten ihm vor den Augen, die immer mehr anschwollen, sich zu leuchtendem Nebel zu verdichten drohten. Er war schon auf dem Feldweg, hinter ihm kein Fahrzeug, ein Glück. Er rang nach Luft, spürte den Puls im Hals schlagen, viel zu schnell, Entsetzen packte ihn, gleichzeitig sagte eine kalte Stimme irgendwo in seinem Kopf: Mach kein Theater, dir fehlt nichts, alles nur, weil der Stadler deine Frau gevögelt hat, was soll der Scheiß? Du bist nicht der Erste, dem das passiert, und wirst nicht der Letzte sein. Dann war es wieder still in seinem Kopf, der Nebel lichtete, der Puls normalisierte sich.
Er fuhr weiter.
So ist das also. Hysterische Anfälle, guten Tag! Mit Zeitverzögerung. Jetzt kriegte er diesen Psychoquatsch, Adele wieder verfügbar, Stadler seit Wochen weg – damals, als die Sache frisch war, hatte es gar nichts gegeben. Kein Zittern und Zagen, keine Blutdruckgeschichten, geschweige denn Nervenzusammenbruch, nichts. Normal war das nicht. Denn so eine massive Reaktion hätte doch eher die Erinnerung an seine Taten begleiten sollen – aber da war nichts, gar nichts. Seine Taten liefen unter der Bezeichnung Problembeseitigung , ein etwas erweiterter beruflicher Alltag, seine Taten berührten ihn nicht.
Sie war schon dort, als er ankam, lehnte am Geländer der schmalen Brücke, die über den Bach führte, die Ellbogen nach hinten aufgestützt, das eine Bein an die untere Querlatte gesetzt. Er war durch den Wald hergelaufen, sie hörte ihn kommen, wandte den Kopf.
Ein Dutzendgesicht, von blondem Haar umrahmt, jene Art Blond, die einzige, zu der keine Farbe passen will, weshalb Frauen mit diesem Ton im Haar immer falsch angezogen sind, egal, was sie gewählt haben; dieser Farbton macht die Schönen zu Hübschen, die Hübschen zu Durchschnitt. Und bei den weniger Hübschen spielt es keine Rolle mehr. Zu denen gehörte die Frau. Sie musterte ihn, er musterte sie. Sie trug Schwarz. Hosen, Schuhe, Pullover, alles schwarz. Sie war ungeschminkt, die Lippen blass, die Augen klein, schon ein wenig Make-up hätte es besser gemacht, dachte er, ein bisschen Mascara, ein Hauch von Rouge, es störte ihn, weil sie nicht dem entsprach, was er erwartet hatte – eine ganz andere Frau, auch ungeschminkt, aber in Gewänder aus diversen Naturfaserngehüllt, dieselben gefärbt mit hundertprozentigen Naturfarbstoffen, die jeden Farbton wie eine spezielle Art Dreck aussehen lassen, umwabert vom Hautgout aus verschwitzter Wolle und saurer Milch – wie es eben einer altdeutsch angewandelten Alternativen mit massiver Rechtstendenz in seiner Vorstellung zukam.
Er blieb einen Meter vor ihr stehen, sie änderte ihre Lage am Geländer nicht.
»Enttäuscht?«, fragte sie.
»Ja, aber angenehm«, sagte er. Sie lächelte, kommentierte seine Antwort nicht, wandte den Blick ab zum Wasser hinunter, das in der Spätsommerhitze träge seinen Lauf nahm. Alles war still. Kein Vogel, kein Insekt zu hören. Kein Lufthauch. Für einen Augenblick schienen alle lebenden Wesen innezuhalten. Auch die Natur selbst. Nathanael Weiß spürte, dass auch er selber innehielt und gar nichts tat. Es war aber darin keine Spannung, nur eine innere Ruhe, ein warmes Gefühl, das sich in ihm ausbreitete, ihn ganz erfasste. Wie bei der Ankunft nach langer Reise. Die Frau machte nichts aus sich, also brauchte auch er nichts aus sich zu machen, keine gute Figur. Brauchte keine schlauen Antworten auf intelligente Fragen zu geben,
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