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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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dem vermaledeiten Läuterungsschwachsinn abzulenken. Die Gegenstände betrafen alle die ARA und dortige verwaltungstechnische Probleme von erheblicher Verzwicktheit, denen ein normaler Mensch aber nicht folgen konnte und auch nicht durfte, wenn er seinen Verstand behalten wollte. Für Anton Galba war das tägliches Brot, er sprach davon aus reiner Verzweiflung; in dem schockartigen Zustand, in den ihn die Erwähnung des Wortes Feme versetzt hatte, war ihm nichts Besseres eingefallen. Er hatte nämlich über die Feme nichts gelesen, wie behauptet, sondern eine sogenannte Spieldokumentation in einem der Doku-Sender angeschaut. Zog man die reißerische Machart solcher Fernsehprodukte in Betrachtund also von allem die Hälfte ab, so blieb doch genug übrig, dass ihn im Inneren große Kälte ankam. Jetzt gab es nicht nur einen Verrückten in der Sache, sondern mindestens zwei, wobei die Unbekannte dem guten Nathanael nicht nur auf die Schliche gekommen war, sondern diese Erkenntnis in ein trübes Kapitel der Rechtsgeschichte einzuordnen wusste – worum es hier nur gehen konnte, war auch klar: um eine Wiederbelebung mittelalterlicher Traditionen, das Zurückdrehen der Uhr um fünfhundert Jahre.
    Sie aßen, Weiß schweigend, Galba redend, ihre Gedanken kreisten um dieselbe Sache. Als sie gezahlt hatten und jeder seines Weges ging, hatten sie exakt dasselbe vor: sich über den Begriff der Feme zu informieren. Genau dies taten sie auch, sogar aus denselben Internetquellen, jeder in seinem Büro, jeder die Tagesarbeit vernachlässigend. Die Folgerungen, die sie aus ihrem neuen Wissen zogen, hätten unterschiedlicher nicht sein können …

    *

    Das Femegericht , auch Freigericht genannt, erfuhr Nathanael Weiß aus dem Internet, sei im 14. und 15. Jahrhundert in Westfalen aktiv gewesen, einer politisch schwierigen Zeit, als die Rechtspflege darniederlag. Das Femegericht bestand aus Freischöffen unter der Leitung eines Freigrafen : Der Graf war unter Karl dem Großen einfach ein königlicher Richter. Mit dem Zerfall der Zentralgewalt hatte man sich im späten Mittelalter wieder auf diese alte, vom legendären Karolingerkönig ausgehende Amtsgewalt besonnen und die Femegerichte eingesetzt.
    In der Praxis schien Rechtsverweigerung der Hauptgrund für die Anrufung eines Femegerichts gewesen zu sein. Wer vorden normalen Gerichten kein Recht fand, wandte sich an den zuständigen Freistuhl . Die westfälischen Femegerichte hatten als einzige Gerichte des Reiches an der Bannleihe durch den König festgehalten, führten ihren Zuständigkeitsanspruch auf die Belehnung durch Karl den Großen zurück – und verschickten ihre Ladungen folgerichtig in den gesamten deutschen Sprachraum, von wo auch Kläger nach Westfalen kamen, um ihr Recht zu suchen.
    Die Sache begann Nathanael Weiß mehr und mehr zu interessieren, vor allem drei Punkte faszinierten ihn: die Begründung der Feme mit der Rechtsverweigerung, die dem Verfahren den Charakter eines Notgerichtes verlieh, die Hohe Gerichtsbarkeit, die von der Feme zweifellos ausgeübt wurde, und die Heimlichkeit des Verfahrens – alles Kriterien, die auf die Causa Hopfner zutrafen. Alle drei Punkte waren hier erfüllt – erfüllt worden, soweit man das so nennen konnte, von ihm, Nathanael Weiß, der, ohne das auch nur zu ahnen, als sein eigener Stuhlherr , so musste man es wohl nennen, die Hopfner-Sache an sich gezogen , geurteilt und vollstreckt hatte.
    Zwar: Einen Kläger gab es nicht. Die Versuche, Frau Hopfner zu ihrem Recht zu verhelfen, waren ins Leere gelaufen, bis Frau Hopfner, die klagen hätte sollen, dazu nicht mehr in der Lage war, wodurch nicht nur das ihr früher zugefügte Unrecht ungesühnt blieb, sondern ein noch größeres Unrecht geschaffen wurde. Rechtsverweigerung? So konnte man es nicht nennen – die Umstände hatten ein reguläres Verfahren verhindert, wie man das dann nannte, war ihm egal; was er ins Werk gesetzt hatte, war eben ein Notgericht . Es kam hier auch gar nicht auf Frau Hopfner oder sonst wen an; Nathanael Weiß hatte die Personalisierung des Rechts innerlich immer abgelehnt, wie ihm nun erst klar wurde – für ihn war Recht einZustand, der eben recht oder unrecht sein konnte. Wie bei einem Bild. Es hing gerade oder ungerade. Ganz unabhängig davon, ob sich jemand entweder darüber aufregte oder es schief hängen ließ, weil es ihm egal war; es kam nicht einmal darauf an, ob das schief hängende Bild überhaupt jemand sah. Wenn es schief hing, hing es

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