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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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nicht zu beweisen, dass er eine Persönlichkeit war, jemand Bedeutender, das war alles weg.
    Ein leichter Wind erhob sich.
    Er dachte daran, wie er noch – wie lang war das her? – vor kaum einer Viertelstunde nach Luft ringend sich bemüht hatte, nicht den Wagen in den Graben zu fahren. Wegen der Erinnerung an eine Kränkung. Jetzt war das alles weg. Er fand es seltsam, er konnte daran denken wie an etwas Alltägliches ohne besondere Bedeutung, wie an etwas, das vorkam. Dann und wann beim einen oder anderen.
    Der Wind war kühl auf der schweißnassen Stirn, kühler alser sein sollte, so kalt, dachte er, Ende August, ist das normal? Die Frau drehte sich langsam zu ihm um. Die Äste und die feinen Blätter der Esche hinter ihr bewegten sich. Sie streckte die rechte Hand nach ihm aus. Er ließ es geschehen. Sie war verrückt, sehr wahrscheinlich gröber gestört, aber was hieß das schon, sein Polizistenherz schlug keinen Takt rascher deswegen, die Frau, von der er immer noch nicht wusste, wer sie war und wie sie hieß – diese Frau war wohl gefährlich, aber nicht ihm. Sondern anderen.
    Sie legte ihm die rechte Hand auf seine linke Schulter.
    »Alles Glück kehre ein …«, sagte sie.
    Er legte seine Rechte auf ihre linke Schulter.
    »… wo die freien Schöffen sein«, sagte er.
    Ein Windstoß zerrte an ihrem Haar von unvorteilhaftem Blond, ließ es flattern, ein bisschen nur (für richtiges Flattern war es auch zu kurz); dadurch sah es nicht vorteilhafter aus, das nicht, aber es spielte keine Rolle. Von Bedeutung war anderes. Nicht nur für diese Frau, auch für ihn und andere, die sich finden würden, das wusste er jetzt schon.
    Alles Glück kehre ein, wo die freien Schöffen sein.
    Der Erkennungssatz der westfälischen Freischöffen untereinander. Er hatte den Satz gelesen, erst gestern in einem gelehrten Buch. Das Buch stammte aus dem 19. Jahrhundert, der Spruch aus dem 15.
    Er ließ den Arm sinken, sie auch.
    »Von Frauen war dort aber nie die Rede«, sagte er. Der Wind ließ nach.
    »Stimmt«, sagte sie. »Vor fünfhundert Jahren. Aber das ist nicht der Punkt«, sagte sie.
    »Ich muss wissen …«
    »… ob Sie mir vertrauen können, schon klar. Aber das sind Präliminarien, das ist nur lästig, bringen wir es also hinteruns. Die Pistole, die Sie im Hosenbund tragen, was ist das für eine?«
    Er grinste, holte sie heraus. »Eine Weltkriegs-Luger.«
    »Aha. Und die haben Sie bei sich, um mich im Zweifelsfall rasch und unbürokratisch beseitigen zu können, falls …«
    »… sich das als notwendig erweisen sollte«, sagte er.
    »Verstehe … Und es ist diese Luger, damit der Verdacht nicht auf Sie fällt.«
    »Kein Mensch weiß, dass ich diese Waffe habe. Es weiß nicht einmal jemand, dass es sie gibt.«
    »Und bin ich jetzt so verrückt, wie Sie sich vorgestellt haben?«
    »Darüber maße ich mir kein Urteil an. Für mich machen Sie einen normalen Eindruck. Extrem normal …«
    »Das freut mich zu hören. Da ich eine so extrem normale Person bin, bin ich auch extrem vorsichtig …«
    »… und haben Vorsichtsmaßnahmen getroffen, das ist mir schon klar. Sie haben nämlich alles auf Video und bei einem Anwalt hinterlegt, der im Falle ihres Ablebens …«
    »… genau. Die Pistole ist dann aber unnötig?«
    »Sie sagen es. So unnötig wie das Video. Aber das konnten Sie vorher nicht wissen. Und ich konnte es auch nicht wissen.« Er steckte die Luger wieder ein.
    »Um die Sache abzukürzen: Ich habe natürlich eine Quelle, aber diese Quelle weiß nicht, dass sie eine ist. Ich weiß nicht, wie man das im Polizeijargon nennt …«
    »Soviel ich weiß, gibt’s dafür keinen speziellen Ausdruck. Außer Plaudertasche vielleicht.« Er lachte, sie fiel ein.
    »Wie auch immer«, fuhr sie fort, »die Plaudertasche war zwar der unmittelbare Anlass für meine Nachforschungen – ich hab sie dann aber ganz unabhängig von dieser Quelle weiterbetrieben.«
    »Warum?«
    »Das heimliche Gericht hat mich fasziniert. Ich hab Geschichte studiert … eine Zeitlang … und hatte mich auf die Verfassungsgeschichte des 14. und 15. Jahrhunderts spezialisiert …«
    »Warum nur eine Zeitlang?«, unterbrach er sie.
    »Sie finden immer gleich die Wunde, und dann wühlen Sie mit einer Zirkelspitze drin rum, stimmt’s?« Das klang sehr bitter.
    »Nein, nein, niemals eine Zirkelspitze … was für eine Idee. Ich spreize sie nur ein bisschen mit den Fingern, die Wunde, um zu sehen, wie tief sie ist und ob nicht noch Fremdkörper

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