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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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Italien«ausgenutzt»hatte, sagte er, er würde Arrest für mich vorschlagen. Dann fügte er hinzu, das hätte ich nämlich verdient, und ging weg, um nicht zu lachen. Als ich hinter seinem Zelt vorbeiging,
hörte ich, dass er den anderen mein Abenteuer erzählte. Ich war immer noch der Mann mit dem Zahn und der Goldsuche. Wer weiß, was ich diesmal gemacht hatte, anstatt nach Italien zu reisen. Vielleicht steckte eine Frau dahinter, die übliche Frau. Er lachte. Also nicht einmal einfacher Arrest war auf dem Matrikelblatt zu verzeichnen.
    Keine Anzeigen. Nur ein Brief von«ihr», aber ich habe ihn noch nicht geöffnet. Ich beginne zu glauben, dass ich auch meinen letzten Mitwisser werde verlassen müssen. Für dieses ihr Gesicht der ernsten Augenblicke habe ich die Frau getötet. Der Doktor von der Baustelle wäre nicht gekommen, aber gleichwohl habe ich sie getötet. Ich werde sie verlassen müssen. Ich glaubte, ihre Schwermut entspringe der Erfahrung des Herzens und sei wohl bedacht und empfunden. Jetzt werde ich mich überzeugen müssen, dass nur noch eine organische Ausdünstung in ihr ist, ein kalter und stinkender Hauch. Vielleicht derselbe Atem, der mich eine Zeitlang ängstigte, mich an das gemahnte, was ich am meisten fürchtete. Wenn«sie»ins Wasser gehen sollte, ohne sich auszukleiden, mir winkte, ihr zu folgen, würde ich am Ufer stehenbleiben, unfähig, die Gesetze ihrer geheuchelten Verrücktheit anzunehmen.
    Niemand suchte mich also. Der Major von A. und der Doktor am allerwenigsten. Ich war gekommen
und bereit zu sagen:«Da bin ich», und der wachhabende Carabiniere salutierte. Niemand kümmerte sich um mich. Der Postbote musste das Zelt durchstöbern, er fand den Brief zunächst nicht. Und ich fühlte bereits, ob er ihn nun fände oder nicht, so hatte das keine Bedeutung. Ich habe ihn noch nicht geöffnet.
    Was mich jedoch in dieser Nacht erstaunte, war das Schweigen des Leutnants. Die Soldaten hörten nicht auf zu singen; sie warteten auf die Morgenhelle, um sich zu vergewissern, dass es beim Sonnenaufgang keine Gegenbefehle gäbe. Noch vier Tage, und dann würde das Stampfen der Schiffsmaschinen sie vollends beruhigen. Sie würden nicht einmal die Kraft finden, der Menschenmenge auf dem Kai zuzuwinken.
    Als ich, voller Ungeduld, das Schweigen zu brechen, den Leutnant fragte:«Na, und?», gab er zur Antwort, dass meine Geschichte einige dunkle Punkte aufweise. Ich war bereit, es zuzugeben; dann fügte er hinzu, dass sie sich auf vier beschränken ließen: der Turban der Frau, die Wunden, das Massaker im Dorf und die ausgebliebene Anzeige des Majors von A.
    «Ja», wiederholte ich, dankbar, dass er keine Anspielung aufs Krokodil gemacht hatte. Eigentlich wollte ich hinzufügen: der Doktor. Aber der Doktor schien mir kein dunkler Punkt mehr zu
sein, im Gegenteil, ein allzu leuchtender. Werde ich ihm wirklich verzeihen können, dass er keine Anzeige erstattet hat? Dieser Menschenfeind wollte mich auffordern, mein Schicksal als«Unberührbarer»anzunehmen, aber mir nicht jenes des Angeklagten aufbürden. Vielleicht dachte er, die auf meine (mit allzu viel Sorgfalt verbundene) Hand geschriebene Verurteilung genüge bereits und man müsse nicht noch weitere in den Strafregistern hinzufügen. Der Schwächste hat gesiegt. Ich hatte meine eigene Gereiztheit auf ihn übertragen. Daraus muss ich schließen: Wenn ich in seiner Haut gesteckt hätte, hätte ich Anzeige erstattet. Und so ist unsere plötzliche Freundschaft nicht durch jenen fehlgegangenen Schuss ausgelöscht worden, sondern durch meine kleinliche Phantasie. Werde ich ihm also diese Schuld verzeihen können, die meine Grenzen aufzeigt?
    «Ja», wiederholte ich. Und ich dachte:«In wenigen Stunden kommen wir durch A., und ich werde ihn in seinem Eukalyptuswäldchen sitzen sehen, immer unerreichbarer, von einer Unordnung umgeben, die ich schätzen lernen werde.»Dann, um das Schweigen zu brechen, sagte ich:«Das Massaker im Dorf scheint mir kein Punkt zu sein, der geklärt werden muss. Leider ist es geschehen, und wir wissen, wie.»
    «Aber wir wissen nicht, warum», erwiderte der
Leutnant,«und es wird gut sein, zu versuchen, es sich vorzustellen. Das Massaker wird dir klarer erscheinen, wenn du erst einmal weißt, dass der junge Fiedelspieler (derselbe, den du im Gehölz schwermütig vorbeigehen sahst und den du dann am Baum aufgehängt, über sein Schicksal nachsinnend, wiederfandest) - wenn du weißt, dass er sich zur Baustelle begab, da er

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