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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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Tag darauf, im Morgengrauen, schickte ich mich an, das Dorf zu verlassen. Ich hatte wieder so weit Mut gefasst, dass ich entschlossen war, es
zu versuchen, auch wenn es ein weiter Weg war bis nach Massaua. Als ich mich von Johannes verabschiedete, war ich überzeugt, dass ich fortgehen würde; aber vielleicht war es ein Fehler, dass ich ihn fragte, was ich ihm zum Andenken an mich dalassen solle. Während Johannes mir das Geld wieder zurückgab, zeigte er auf meine Armbanduhr und sagte:«Dies.»Er sagte es mit solcher Stimme, dass ich mich an einen Baum stützen musste, die Knie wankten mir. Ableugnen war nicht möglich, und jetzt verstand ich auch, warum der Alte mir schon vom ersten Tag an, als ich ihn beim Begraben seiner Toten überrascht hatte, so feindlich begegnet war. Johannes blickte mir unverwandt in die Augen, und mehr noch als meine Blässe musste mich wohl die instinktive Handbewegung verraten, die ich machte, um die Uhr zu verstecken: die Uhr, welche die Frau, als sie ins Dorf zurückkam, sicherlich vorgezeigt hatte. Als ich wieder sprechen konnte, sagte ich:«Gehen wir.»Ich ließ ihn allein mit Mariams Grab. Aber ich ging nicht fort.
    Ich ging nicht, weil Johannes die Existenz Mariams zugegeben hatte; jetzt würde er von Mariam sprechen, und er würde sagen, ob meine leise Hoffnung unbegründet war oder nicht. Als ich den Alten am Tag darauf (an diesem Tag sah ich Johannes nicht mehr) das fragte, was ich wissen
wollte, gab er keine Antwort. Weinend zeigte ich ihm meine Wunden, und er betrachtete sie lange und schüttelte den Kopf. Noch am selben Abend legte er mir den ersten widerlichen Umschlag auf den Bauch und auf die Hand. Ich ließ es schluchzend geschehen, doch ich glaubte nicht daran; es war doch nicht möglich, es konnte nicht wahr sein, dass ich geheilt würde. Ich schluchzte dermaßen, dass ich bis zum Morgengrauen betäubt in der Hütte (der besten Hütte von allen) liegenblieb.
    Am Morgen des einundvierzigsten Tages nahm ich die Abkürzung zum Hochland; ich ging, um mich zu stellen. Jetzt war es unnütz, sich zu verstecken. Die Wunden heilten. Johannes hatte mich nicht betrogen. Und dennoch, die erste Abbildung in dem Büchlein war meine Hand.
    Als ich an Mariams Grab vorüberkam, sah ich, dass es mit einem Strohdach bedeckt war. Es wurde von den Pfählen getragen, die der Alte mit so viel Beharrlichkeit geschnitzt hatte.

SIEBTES KAPITEL
    Dunkle Punkte

1
    Als ich meine Geschichte zwei Tage später dem Leutnant erzählte, äußerte er sich nicht dazu. Er betrachtete weiterhin das Tal, das sich im ersten Licht der Morgendämmerung erhellte, betrachtete die Berge gegenüber und sagte nichts. Eigentlich war ich auf irgendein treffendes Zitat gefasst. Ich hätte um alles Geld gewettet, das ich in der Tasche hatte (auch um das gestohlene), dass er, seinem schüchternen Zynismus treu, einen seiner Autoren anführen würde. Oder ich fürchtete eine Auslegung, die ihm von seinem jugendlichen und unbedachten Wesen eingegeben wurde; oder etwas über das Paradies, das man sich manchmal durch die schlechtesten Taten verdient, oder dass er darauf verzichten würde, eine Lehre zu ziehen aus Geschehnissen, die dem Zufall unterliegen, also darauf, in dem ganzen menschlichen Spiel der Wahrscheinlichkeiten eine Moral zu suchen. Stattdessen schwieg er; reglos betrachtete er das Tal. Ich befürchtete, die Erzählung meiner Abenteuer
habe ihn eingeschläfert; doch er lag nicht ausgestreckt da, und ich sah die Spitze seiner Zigarre von Zeit zu Zeit aufglimmen. Vielleicht dachte er nach. Oder er fand meine Geschichte wenig überzeugend und bedauerte, dass er in diesen Stunden um seinen Schlaf gebracht worden war. Vielleicht aber lauschte er auf die Stimmen der Soldaten, die immer noch sangen aus Freude, dass dies die letzte Nacht war, die sie oben am Talhang verbringen mussten. Beim Weckruf würden wir aufbrechen zur Küste, um uns vier Tage später einzuschiffen. Weitere acht Tage, und dann: Italien.
    Auch ich würde abreisen. Ich war vor zwei Tagen hierhergekommen, bereit zu sagen:«Da bin ich»und dem Carabinieri-Offizier zu folgen, der mich, wie ich meinte, in irgendeine Festung der alten Kolonie führen würde. Ich verzichtete auf meine Komplizen, zwar nicht froh zu sühnen, aber des Wartens müde; und dann fand ich das Lager in Aufruhr, denn es war Befehl zur Heimkehr erteilt worden. Und niemand suchte mich, es lagen keine Anzeigen gegen mich vor. Als der Hauptmann erfuhr, dass ich den Urlaub nicht in

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