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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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mich?«
    »Nein.«
    »Ich will dich nicht enttäuschen.«
    »Ich bin nicht wütend oder enttäuscht«, sagte er.
    »Macht es dich traurig, dass ich dir das Geld nicht gebe?«
    »Nein. Du bist ein guter Mensch, du tust das Gute und Richtige. Es macht mich zufrieden.«
    Warum hatte ich dann das Gefühl, dass das eine feige, armselige Tat war und dass ich der armselige Feigling war? Lass mich sagen, warum ich Großvater das Geld nicht gegeben habe. Nicht weil ich es für mich selbst sparen will, um nach Amerika zu ziehen. Das ist ein Traum, aus dem ich aufgewacht bin. Ich werde Amerika nie sehen, und Klein-Igor auch nicht, das verstehe ich jetzt. Ich habe Großvater das Geld nicht gegeben, weil ich nicht an Augustine glaube. Nein, das ist nicht das, was ich meine. Ich glaube nicht an die Augustine, nach der Großvater gesucht hat. Die Frau auf dem Foto ist lebendig. Ich bin sicher, sie ist lebendig. Aber ich bin auch sicher, sie ist nicht Herschel, wie Großvater es wollte, und sie ist nicht meine Großmutter, wie er es wollte, und sie ist nicht mein Vater, wie er es wollte. Wenn ich ihm das Geld gegeben hätte, dann hätte er sie gefunden, und er hätte gesehen, wer sie wirklich ist, und das hätte ihn getötet. Ich sage das nicht bildlich. Es hätte ihn wirklich getötet.
    Aber es war eine Situation ohne Gewinn. Es gab keine Möglichkeiten zwischen dem, was möglich war, und dem, was wir wollten. Und hier muss ich dir eine schreckliche Neuigkeit berichten. Großvater ist vor vier Tagen gestorben. Er hat seine Hände aufgeschnitten. Es war sehr verspätet in der Nacht, und ich konnte nicht schlafen. Aus dem Badezimmer kam ein Geräusch, also ging ich, um es zu untersuchen. (Jetzt, wo ich der Mann im Haus bin, muss ich dafür sorgen, dass alles funktioniert.) Ich fand Großvater in der Badewanne, die voller Blut war. Ich sagte ihm, dass er aufhören sollte zu schlafen, denn ich verstand noch nicht, was passierte. »Wach auf!« Dann schüttelte ich ihn mit Kraft, und dann schlagte ich ihm ins Gesicht, so hart, dass ich meine Hand wehgetan habe. Ich schlagte ihn noch einmal. Ich weiß gar nicht, warum, aber ich habe es getan. Um dir die Wahrheit zu sagen: Ich hatte noch nie jemand geschlagen, ich bin immer nur geschlagen worden. »Wach auf!«, rief ich ihm zu und schlagte ihn noch einmal, diesmal auf die andere Seite von seinem Gesicht. Aber ich wusste, dass er nicht aufwachen würde. »Du schläfst zu viel!« Mein Rufen weckte meine Mutter, und sie rannte zum Badezimmer. Sie musste mich mit Kraft von Großvater wegziehen, und sie hat mir später gesagt, dass sie dachte, ich hätte ihm getötet, weil ich so viel geschlagen habe und weil ich einen solchen Blick in den Augen hatte. Wir haben eine Geschichte über einen Unfall mit Schlaftabletten erfunden. Das haben wir Klein-Igor erzählt, damit er es nie wissen muss.
    Es war schon ein solcher Abend gewesen. Viel war passiert, so wie jetzt viel passiert, so wie noch viel passieren wird. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich meinem Vater genau gesagt, was ich dachte, so wie ich dir jetzt zum ersten Mal genau sage, was ich denke. Und wie ihn bitte ich dich um Verzeihung.
    In Liebe, Alex
    Erleuchtung
    »Herschel bekümmerte deinen Vater, wenn ich eine Besorgung machen musste oder wenn deine Großmutter krank war. Sie war die ganze Zeit krank, nicht nur am Ende ihres Lebens. Herschel bekümmerte deinen Vater und hielt ihn auf dem Arm, als ob er sein eigenes Kind wäre. Er nannte ihn sogar >Sohn<.«
    Ich sagte das alles zu Jonathan, wie Großvater es zu mir sagte, und er schrieb alles in sein Tagebuch. Er schrieb:
    »Herschel besaß keine eigene Familie. Er war ncht so ein geselliger Mensch. Er las gern sehr viel, und er schrieb auch gern. Er war ein Dichter, und er hat mir viele von seinen Gedichten vorgeführt. Ich kann mich an viele davon erinnern. Sie waren albern, könnte man sagen, und handelten von Liebe. Er war immer in seinem Zimmer und schrieb diese Sachen, er war nie unter Menschen. Ich sagte immer zu ihm: Diese Liebe auf dem Papier, zu was soll das gut sein? Ich sagte: Lass die Liebe doch mal was auf dich schreiben. Aber er war so dickköpfig. Oder vielleicht war er auch nur schüchtern.«
    »Du warst sein Freund?«, fragte ich ihn, obwohl er ja schon gesagt hatte, dass er Herschels Freund gewesen war.
    »Einmal hat er gesagt, dass wir seine einzigen Freunde waren. Deine Großmutter und ich. Er kam zum Abendessen zu uns, und manchmal blieb er sehr verspätet. Wir

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