Alles ist erleuchtet
machten sogar Urlaub zusammen. Als dein Vater geboren war, machten wir drei viele Spaziergänge mit dem Baby. Wenn er etwas brauchte, kam er zu uns. Wenn er ein Problem hatte, kam er zu uns. Einmal hat er mich gefragt, ob er deine Großmutter küssen durfte. Warum?, habe ich ihn gefragt, und es machte mich zu einem wütenden Menschen, zu einem wirklich sehr wütenden Menschen, dass er sie küssen wollte. Weil ich Angst habe, sagte er, dass ich niemals eine Frau küssen werde. Her-schel, sagte ich, das liegt daran, dass du nie versuchst, eine zu küssen.«
(War er in Großmutter verliebt?) (Ich weiß es nicht.)
(Könnte es sein?)
(Es könnte sein. Er sah sie an, und er brachte ihr auch Blumen mit.)
(Hat dich das gestört?)
(Ich habe sie beide geliebt.)
»Hat er sie geküsst?«
»Nein«, sagte er. (Du wirst dich erinnern, Jonathan, dass er hier lachte. Es war ein ernstes, kurzes Lachen.) »Er war so schüchtern, dass er nie irgendeine Frau geküsst hat, nicht einmal Anna. Ich glaube nicht, dass sie je irgendwas gemacht haben.«
»Er war dein Freund«, sagte ich.
»Er war mein bester Freund. Damals war es anders. Juden -Nichtjuden. Wir waren noch jung, und es war noch sehr viel Leben vor uns. Wer konnte schon wissen?« (Wir wussten es nicht, will ich damit sagen. Wie hätten wir es wissen können?)
»Was wissen?«, fragte ich.
»Wer konnte wissen, dass wir auf einer solchen Nadel lebten?«
»Einer Nadel?«
»Eines Tages aß Herschel bei uns Abendessen, und er hatte deinen Vater auf dem Arm und sang ihm Lieder vor.«
»Lieder?«
(Er sang das Lied, Jonathan, und ich weiß, wie sehr du es genießt, Lieder in Geschriebenes einzusetzen, aber das kannst du nicht von mir fordern. Ich habe so lange versucht, das Lied aus meinem Kopf zu werfen, aber es ist immer da. Ich höre mich, wie ich es singe, wenn ich gehe und in meinen Kursen in der Universität sitze und bevor ich einschlafe.)
»Aber wir waren sehr dumm«, sagte er und untersuchte wieder das Foto und lächelte. »So dumm.«
»Warum?«
»Weil wir an Dinge geglaubt haben.« »Was für Dinge?«, fragte ich, weil ich es nicht wusste. Ich verstand es nicht.
(Warum stellst du so viele Fragen?)
(Weil du nicht klar zu mir bist.)
(Ich bin sehr schäm voll.)
(Du brauchst in meiner Nähe nicht schamvoll zu sein. Die Familie sind die Menschen, bei denen du nie schamvoll sein musst.)
(Du hast Unrecht. Die Familie sind die Menschen, die dich schamvoll machen müssen, wenn du Scham verdienst.)
(Und du verdienst Scham?)
(Ich verdiene Scham. Das versuche ich dir ja zu sagen.) »Wir waren dumm«, sagte er, »weil wir an Dinge glaubten.«
»Warum ist das dumm?«
»Weil es nichts gibt, an das man glauben kann.«
(Liebe?)
(Es gibt keine Liebe. Nur das Ende der Liebe.)
(Gutheit?)
(Sei kein Dummkopf.)
(Gott?)
(Wenn es Gott gibt, darf man nicht an ihn glauben.)
»Augustine?«, fragte ich.
»Ich träumte, sie könnte so etwas sein«, sagte er. »Aber ich habe mich getäuscht.«
»Vielleicht hast du dich nicht getäuscht. Wir konnten sie nicht finden, aber das bedeutet nichts darüber, ob man an sie glauben sollte oder nicht.«
»Was ist gut an etwas, das man nicht finden kann?«
(Ich sage dir, Jonathan, dass es an dieser Stelle der Unterhaltung nicht mehr Alex und Alex, Großvater und Enkel, waren, die da saßen und redeten. Wir hatten beendet, zwei verschiedene Menschen zu sein, zwei Menschen, die sich in die Augen sehen konnten und Dinge äußerten, die sonst nicht geäußert werden. Als ich ihm zuhörte, hörte ich nicht Großvater zu, sondern einem anderen Menschen, einem Menschen, den ich noch nie getroffen hatte und trotzdem besser kannte als Großvater. Und der Mensch, der diesem Menschen zuhörte, war nicht ich, sondern jemand anders, jemand, der ich noch nie gewesen war und den ich trotzdem besser kannte als mich.)
»Erzähl mir mehr«, sagte ich.
»Mehr?«
»Von Herschel.«
»Es war so, als ob er zur Familie gehörte.«
»Erzähl mir, was passiert ist. Was ist mit ihm passiert?«
»Mit ihm? Mit ihm und mir. Es ist mit allen passiert, täusch dich nicht. Dass ich kein Jude bin, heißt nicht, dass es mir nicht passiert ist.«
»Was ist passiert?«
»Man musste sich entscheiden und hoffen, dass man sich für das kleinere Übel entscheidet.«
»Man musste sich entscheiden«, sagte ich zu Jonathan, »und hoffen, dass man sich für das kleinere Übel entschied.«
»Und,ich habe mich entschieden.«
»Und er hat sich entschieden.«
»Für was
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