Alles ist erleuchtet
SEN?BRAUN UND GUT GE-NÄHRT, ABER NICHT FETT, LIEBENSWÜRDIG, VIELLEICHT ETWAS FETT, HÖRT AUF »METHUSALEM«, NA GUT, SEHR FETT. WER SIE FINDET, DARF SIE BEHALTEN. Manchmal wiegte er die Kleine in den Schlaf und las sie von Anfang bis Ende, und dann wusste er alles, was er über die Welt wissen musste. Wenn es nicht auf dem Kindchen geschrieben stand, war es für ihn ohne Bedeutung.
Jankel hatte zwei Kinder verloren - das eine durch Fieber, das andere durch die Mühle, die seit ihrer Eröffnung jedes Jahr einen Einwohner des Schtetls das Leben gekostet hatte. Er hatte auch seine Frau verloren, allerdings nicht durch den Tod, sondern durch einen anderen Mann. Eines Nachmittags war er von der Leihbücherei nach Hause gekommen und hatte genau über dem SCHALOM! auf der Fußmatte vor der Tür einen Zettel gefunden: Ich musste es für mich selbst tun.
Lilla F. betastete prüfend die Erde rings um eins ihrer Gänseblümchen. Bitzl Bitzl stand am Küchenfenster und tat, als wischte er die Anrichte ab. Schloim W. spähte durch die obere Hälfte einer seiner Sanduhren, von denen er sich keinen Augenblick mehr trennen konnte. Niemand sagte etwas, als Jankel die Nachricht las, und auch später verlor niemand ein Wort darüber, als wäre es kein bisschen ungewöhnlich, dass seine Frau verschwunden war, oder als hätte niemand bemerkt, dass er überhaupt verheiratet gewesen war.
Warum konnte sie den Zettel nicht unter der Tür durchschieben?, fragte er sich. Warum konnte sie ihn nicht zusammenfalten? Der Zettel sah aus wie irgendein Zettel, den sie ihm hingelegt hatte, wie: Könntest du den gebrochenen Türklopfer reparieren? oder: Keine Sorge - bin bald wieder zurück. Es erschien ihm so seltsam, dass eine so andere Nachricht - Ich werde nie zurückkehren - genauso aussehen konnte: trivial, alltäglich, nach nichts. Jankel hätte seine Frau dafür hassen können, dass sie den Zettel so offen dort hatte liegen lassen, er hätte sie auch dafür hassen können, dass die Nachricht so lapidar war, so schmucklos, eine Nachricht ohne irgendeinen kleinen Hinweis, dem man hätte entnehmen können: Ja, dies ist wichtig, ja, es ist die schmerzlichste Nachricht, die ich je geschrieben habe, ja, ich würde lieber sterben, als noch einmal so etwas schreiben zu müssen. Wo waren die getrockneten Tränen? Wo war das Zittern in der Handschrift?
Doch seine Frau war seine erste und einzige Liebe gewesen, und da es dem Naturell der Einwohner des winzigen Schtetls entsprach, ihren ersten und einzigen Lieben zu vergeben, zwang Jankel sich, seine Frau zu verstehen oder wenigstens so zu tun, als verstehe er sie. Nicht ein einziges Mal warf er ihr vor, dass sie mit dem reisenden, schnurrbärtigen Bürokraten, der geholt worden war, um angesichts der unerfreulichen Details von Jankels beschämender Gerichtsverhandlung eine Einigung herbeizuführen, nach Kiew geflohen war; der Bürokrat konnte ihr versprechen, für ihre Zukunft zu sorgen, er konnte sie gegen alles abschirmen und sie, ohne Gewissenserforschung, ohne Geständnisse und Verhandlungen, an einen ruhigeren Ort bringen. Nein, darum ging es nicht. Es ging um Jankel. Sie wollte ohne Jankel sein.
Die nächsten Wochen verbrachte er damit, die Vorstellung, wie der Bürokrat seine Frau vögelte, aus seinem Kopf zu verbannen. Wie er sie auf dem Boden vögelte, umgeben von Zutaten für das Essen. Im Stehen, die Socken noch an den Füßen. Im Gras des Gartens ihres neuen, riesigen Hauses. Er stellte sich vor, dass sie Geräusche von sich gab, die sie für ihn nie von sich gegeben hatte, und eine Lust empfand, die er ihr nie verschafft hatte, und zwar weil der Bürokrat ein Mann war und Jankel nicht. Lutscht sie an seinem Penis?, fragte er sich. Ich weiß, dass das ein dummer Gedanke ist, der mir nur noch mehr Schmerz bereitet, aber ich kann ihn nicht abschütteln. Und wenn sie an seinem Penis lutscht - was sie sicherlich tut - , was tut er dann? Streicht er ihr das Haar zurück, damit er ihr besser zusehen kann. Streichelt er ihre Brust? Denkt er an eine andere? Wenn er an eine andere denkt, bringe ich ihn um.
Während das Schtetl nicht aufhörte, ihn zu beobachten - Lilla betastete, Bitzl Bitzl wischte, und Schloim tat noch immer, als messe er die Zeit mit Sand - , faltete Jankel den Zettel zusammen, bis er die Form einer Träne hatte, schob ihn in die Brusttasche halb hinter dem Revers und trat ins Haus. Ich weiß nicht, was ich tun soll, dachte er. Wahrscheinlich sollte ich mich umbringen.
Er
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