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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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Taubheit vor, um sich angesichts des Fehlens jeglicher Empfehlungsschreiben mit einem Hauch von Fachkenntnis zu umgeben), ja er gab sogar ein kurzes, unter einem schlechten Stern stehendes Gastspiel als der schlechteste Wahrsager der Welt: Ich werde dich nicht anlügen und dir sagen, dass die Zukunft voller Verheißung ist... Jeden Morgen erwachte er mit der Sehnsucht, das Richtige zu tun und ein guter und bedeutsamer Mensch zu sein, mit der Sehnsucht - so schlicht es klang und so unmöglich es tatsächlich war -, glücklich zu sein. Und im Laufe eines jeden Tages sank sein Herz von der Brust in den Bauch. Am frühen Nachmittag war er von dem Gefühl durchdrungen, dass nichts richtig sei, jedenfalls nicht für ihn, und hatte nur noch den Wunsch, allein zu sein. Gegen Abend war er dann zufrieden: allein mit der Größe seiner Trauer, allein mit seinem ziellosen Schuldgefühl, allein sogar mit seiner Einsamkeit. Ich bin nicht traurig, sagte er sich immer wieder, ich bin nicht traurig. Als könnte er sich dadurch eines Tages überzeugen. Oder hinters Licht führen. Oder andere überzeugen - denn noch schlimmer, als traurig zu sein, ist, wenn andere wissen, dass man traurig ist. Ich bin nicht traurig. Ich bin nicht traurig. Denn sein Leben hatte ein unbegrenztes Potential für Glück, und zwar insofern, als es ein leerer, weiß gestrichener Raum war. Wenn er einschlief, lag sein Herz am Fußende des Bettes wie ein gezähmtes Tier, das gar kein Teil von ihm war. Und jeden Morgen, wenn er erwachte, war es wieder im Schrank seines Brustkorbs; es war etwas schwerer und etwas schwächer geworden, aber es schlug noch. Und am Nachmittag war er abermals überwältigt von der Sehnsucht, irgendwo anders zu sein, irgendwer anders zu sein, irgendwer anders irgendwo anders zu sein. Ich bin nicht traurig.
    Nach drei Jahren kehrte er ins Schtetl zurück - ich bin der letzte Beweis dafür, dass alle, die fortgehen, irgendwann zurückkehren - und lebte ein zurückgezogenes Leben, wie die Franse eines Wanklers, an Trachimbrods Ärmel genäht. Zum Zeichen seiner Schande musste er diese schreckliche Perle um den Hals tragen. Er änderte seinen Namen in Jankel, den Namen des Bürokraten, mit dem seine Frau durchgebrannt war, und bat darum, nicht mehr mit Safran angesprochen zu werden (obgleich er glaubte, dass dieser Name hin und wieder hinter seinem Rücken gemurmelt wurde). Viele seiner alten Klienten nahmen seine Dienste wieder in Anspruch, auch wenn sie sich weigerten, die Zinssätze zu zahlen, die er in seiner großen Zeit verlangt hatte, und so gelang es ihm, in dem Schtetl, in dem er geboren war, wieder Fuß zu fassen - und das ist letztlich das Ziel aller, die ins Exil gegangen sind.
    Als die Männer mit den schwarzen Hüten ihm das Baby übergaben, hatte er das Gefühl, dass auch er nur ein Baby war, dass sich ihm die Gelegenheit bot, ein Leben ohne Schande zu führen, ohne das Bedürfnis nach Trost, weil er sein Leben falsch gelebt hatte, mit der Chance, noch einmal unschuldig zu sein, schlicht und unmöglich glücklich. Nach dem Fluss, der sie so eigentümlich geboren hatte, nannte er die Kleine Brod, und er band ihr eine eigene Schnur mit einer winzigen Abakusperle um den Hals, denn sie sollte sich bei ihm, der ihre Familie sein würde, nie fehl am Platz fühlen.
    Und meine Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter wuchs heran. Sie erinnerte sich natürlich an nichts, und man erzählte ihr auch nichts. Jankel erfand eine Geschichte über den frühen Tod ihrer Mutter - schmerzlos, bei deiner Geburt -, und die Antworten auf die vielen Fragen, die Brod ihm stellte, waren so, dass sie ihr, wie er glaubte, am wenigsten Schmerzen bereiten würden. Diese wunderschönen großen Ohren hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Ebenso wie den Humor, den die Jungen an ihr so sehr bewunderten. Er schilderte Brod die Reisen, die er und seine Frau unternommen hatten (wie sie ihm in Venedig einen Dorn aus dem Fuß gezogen hatte, wie er in Paris vor einem großen Brunnen mit einem rötlichen Stift ein Porträt von ihr gezeichnet hatte), er zeigte ihr die Liebesbriefe, die sie einander geschickt hatten (die Briefe von Brods Mutter schrieb er mit der linken Hand), und zur Schlafenszeit erzählte er ihr Geschichten von der Liebe zwischen ihm und seiner Frau.
    War es Liebe auf den ersten Blick, Jankel?
    Ich habe deine Mutter schon geliebt, bevor ich sie sah - ich habe mich in ihren Duft verliebt.
    Erzähl mir noch einmal, wie sie aussah.
    Sie sah aus wie du. Sie war

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