Alles ist erleuchtet
konnte es nicht ertragen zu leben, aber er konnte auch nicht ertragen zu sterben. Er konnte es nicht ertragen, daran zu denken, dass seine Frau mit einem anderen schlief, aber ebenso wenig konnte er es ertragen, nicht daran zu denken. Und was die Nachricht betraf, so konnte er es nicht ertragen, sie zu behalten, doch ebenso wenig konnte er es ertragen, sie zu vernichten. Also versuchte er, sie zu verlieren. Er ließ sie neben den Wachs weinenden Kerzenhaltern liegen, steckte sie bei jedem Passahfest zwischen die Matzen, warf sie achtlos zu den anderen zerknüllten Papieren auf seinem unaufgeräumten Schreibtisch und hoffte, sie werde, wenn er zurückkehrte, nicht mehr da sein. Doch sie war immer da. Er versuchte, sie aus seiner Tasche zu massieren, wenn er auf der Bank am Brunnen der Hingestreckten Meerjungfrau saß, doch wenn er dann sein Taschentuch hervorholte, war sie noch immer da. Er steckte sie wie ein Lesezeichen in enes der Bücher, die er am meisten hasste, doch wenige Tage später tauchte sie zwischen den Seiten eines der Western-Romane auf, die er als Einziger im Schtetl las, eines jener Romane, die sie ihm nun für immer verdorben hatte. Die Nachricht kehrte immer wieder zu ihm zurück. Sie blieb bei ihm, als wäre sie ein Teil von ihm, als wäre sie ein Muttermal, eines seiner Glieder - sie war an ihm, sie war in ihm, sie war er, sie war seine Hymne: Ich musste es für mich selbst tun.
Er hatte im Lauf der Zeit so viele Zettel, Schlüssel, Stifte, Hemden, Brillen, Uhren, Messer, Gabeln und Löffel verloren. Er hatte einen Schuh verloren, seine Lieblingsmanschettenknöpfe mit den Opalen (die Wankler-Fransen an seinen Manschetten gebärdeten sich ungebärdig), drei Jahre, die er nicht in Trachimbrod verbracht hatte, sowie Millionen von Einfallen, die er hatte aufschreiben wollen (manche davon äußerst originell, manche äußerst bedeutsam), er hatte sein Haar verloren, seine aufrechte Haltung, seine Eltern, zwei Kinder, eine Frau, ein Vermögen in Kleingeld und mehr Chancen, als man zählen konnte. Er hatte sogar einen Namen verloren: Bevor er aus dem Schtetl geflohen war, hatte er Safran geheißen - von seiner Geburt bis zu seinem ersten Tod war er Safran gewesen. Es schien nichts zu geben, das er nicht verlieren konnte. Doch dieses Stück Papier wollte nicht verschwinden, ebenso wenig wie das Bild seiner hingestreckten Frau, ebenso wenig wie der Gedanke, dass sein Leben eine deutliche Wende zum Besseren genommen hätte, wenn er imstande gewesen wäre, ihm ein Ende zu setzen.
Vor dem Prozess wurde Jankel-der-damals-Safran-war uneingeschränkt bewundert. Er war Vorsitzender (und Schatzmeister und Schriftführer und einziges Mitglied) des Komitees für die Guten und Schönen Künste sowie Gründer, mehrmals wieder gewählter Direktor und einziger Lehrer der Schule für Hehres Lernen, die er unter seinem Dach eingerichtet hatte und an deren Unterricht er persönlich teilnahm. Es war nicht ungewöhnlich, dass eine Familie ein Essen mit mehreren Gängen zu seinen Ehren (wenn auch nicht in seiner Gegenwart) gab oder dass einer der wohlhabenderen Bürger einem reisenden Künstler den Auftrag erteilte, ein Porträt von Jankel zu malen. Diese Porträts waren stets schmeichelhaft. Er war jemand, den alle bewunderten, den aber niemand kannte. Er war wie ein Buch, das gut in der Hand lag, über das man sprechen konnte, ohne es gelesen zu haben, ein Buch, das man empfehlen konnte.
Auf Anraten seines Rechtsanwalts Isaak M., der mit jeder Silbe eines jeden Wortes, das er sprach, Fragezeichen in die Luft malte, bekannte sich Jankel in allen Punkten der Anklage des unangemessenen Geschäftsgebarens schuldig. Er hoffte, dadurch eine Strafmilderung zu erlangen. Letztlich verlor er seine Lizenz als Wucherer. Ja er verlor mehr als seine Lizenz: Er verlor seinen guten Namen, und das ist, wie man sagt, das Einzige, was schlimmer ist als seine Gesundheit zu verlieren.
Passanten musterten ihn verächtlich oder murmelten etwas wie »Gauner«, »Betrüger«, »Kanaille«, »Arschloch«. Man hätte ihn nicht so gehasst, wenn man ihn zuvor nicht so geliebt hätte. Doch wie der Feld-Wald-und-Wiesen-Rabbi und Sofiowka war er eine der Spitzen der Gesellschaft - der unsichtbaren Gesellschaft - , und durch seine Schande entstand ein Ungleichgewicht, eine Lücke.
Safran zog durch die benachbarten Dörfer und fand Arbeit als Lehrer für Theorie und Praxis des Cembalospiels und als Duftberater (dabei täuschte er Blindheit und
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