Alles ist erleuchtet
Ehe, Tod und Liebe: Dieser Traum kommt mir so vor, als würde er Stunden dauern, dabei dauert er nur die fünf Minuten zwischen meiner Heimkehr vom Feld und dem Beginn des Abendessens. Ich träume davon, wie ich vor fünfzig Jahren meine Frau kennen gelernt habe, und es ist genau so, wie es damals war. Ich träume von unserer Hochzeit, und ich kann sogar die Tränen des Stolzes sehen, die mein Vater weint. Es ist alles genau so, wie es war. Aber dann träume ich von meinem eigenen Tod, was, wie ich gehört habe, ganz unmöglich ist, doch ihr müsst mir glauben. Ich träume, dass meine Frau mir am Sterbebett sagt, dass sie mich liebt, und auch wenn sie glaubt, ich könnte sie nicht hören, höre ich sie doch, und sie sagt, sie würde nichts ändern wollen. Es fühlt sich an wie eine Szene, die ich schon tausendmal erlebt habe: Alles ist vertraut, bis hin zum Augenblick des Todes, und wird sich unzählige Male wiederholen - wir werden uns kennen lernen, heiraten, Kinder bekommen, wir werden die Erfolge haben, die wir gehabt haben, die Misserfolge haben, die wir gehabt haben, alles wird immer so sein, wie es war, und ich werde immer unfähig sein, irgendetwas zu ändern. Wieder bin ich an der tiefsten Stelle eines sich unaufhaltsam drehenden Rades, und als ich die Augen schließe, um zu sterben, wie ich es tausendmal getan habe und tun werde, wache ich auf. 4:518 - Der Traum von der fortwährenden Bewegung. 4:519 - Der Traum von den niedrigen Fenstern. 4:520 - Der Traum von Sicherheit und Frieden: Ich träumte, dass ich von einer Fremden geboren wurde. Sie gebar mich an einem geheimen Ort, weit entfernt von allem, das mir in meinem Leben vertraut werden sollte. Kaum dass ich geboren war, übergab sie mich, um den Anschein zu wahren, meiner Mutter, und meine Mutter sagte: Danke. Du hast mir einen Sohn, ein Leben geschenkt. Und darum, weil ich aus dem Körper einer Fremden geschlüpft war, hatte ich keine Furcht vor dem Körper meiner Mutter und konnte ihn ohne Scham und mit reiner Liebe umarmen. Weil ich nicht aus dem Körper meiner Mutter geschlüpft war, führte mich der Drang, zum Ursprung zurückzukehren, nicht zu ihr, und ich konnte »Mutter« sagen und nichts anderes als »Mutter« meinen. 4:521 - Der Traum von den körperlosen Vögeln (47): In diesem Traum, den ich jede Nacht träume, ist es früher Abend, und ich schlafe mit meiner Frau, meiner wirklichen Frau, meine ich, mit der ich seit dreißig Jahren verheiratet bin, und ihr alle wisst, dass ich sie liebe, dass ich sie über alles liebe. Ich drücke ihre Oberschenkel mit den Händen, und dann lasse ich die Hände über ihre Taille und ihren Bauch gleiten und berühre ihre Brüste. Meine Frau ist eine so schöne Frau, das wisst ihr ja, und im Traum ist sie genauso, genauso schön wie in Wirklichkeit. Ich betrachte meine Hände auf ihren Brüsten - abgearbeitete Hände voller Schwielen, Männerhände, geädert, zitternd, unruhig - , und ich erinnere mich, ich weiß nicht, warum, aber es ist jede Nacht so, ich erinnere mich an die beiden weißen Vögel, die meine Mutter mir aus Warschau mitgebracht hat, als ich noch ein Kind war. Wir ließen sie im Haus umherfliegen, und sie durften sitzen, wo sie wollten. Ich erinnere mich an den Anblick des Rückens meiner Mutter, die Eier für mich briet, und ich erinnere mich an die Vögel, die auf ihren Schultern saßen, die Schnäbel neben ihren Ohren, als würden sie ihr gleich ein Geheimnis erzählen. Sie streckte die rechte Hand zum Regal aus, suchte, ohne hinzusehen, nach einem Gewürz auf dem obersten Bord und tastete nach etwas Flatterndem, Flüchtigem, ohne die Eier anbrennen zu lassen. 4:522 - Der Traum von der Begegnung mit dem jüngeren Ich. 4:523 - Der Traum von den Tieren, zwei von jeglicher Art. 4:524 - Der Traum davon, dass ich mich nicht schäme. 4:525 - Der Traum davon, dass wir unsere Väter sind: Ich ging, ohne zu wissen, warum, zum Brod und sah im Wasser mein Spiegelbild. Ich konnte den Blick nicht abwenden. Was für ein Bild zog mich so an? Was war es, das ich liebte? Und dann erkannte ich es. Es war so einfach. Im Wasser sah ich das Gesicht meines Vaters, und dieses Gesicht sah das Gesicht seines Vaters und so weiter und so weiter, immer weiter rückwärts bis zum Anbeginn der Zeiten, bis zum Angesicht Gottes, zu dessen Bilde wir erschaffen sind. Wir erglühten in Liebe zu uns selbst, wir alle, Urheber des Feuers, das uns verzehrte - unsere Liebe war das Leiden, das nur durch unsere Liebe geheilt
Weitere Kostenlose Bücher