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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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nebeneinander hinter den Schlitten liefen, um die Hunde nicht zu überfordern, führten sie Gespräche über die Wahrscheinlichkeit, dass es sich tatsächlich um einen Vogel handelte, unterbrochen nur von den Schrittzählungen Loewes, der dem Hodometer misstraute. Stundenlang konnte man darüber sprechen, ob der Sperling eher Einbildung war oder Wirklichkeit.
    Wenn er vor dem Einschlafen in Fäustlingen in seinem Tagebuch schrieb, versuchte Wegener den Vogel so zu beschreiben, als handle es sich um eine Täuschung.
     
    Es wurde kälter mit jedem weiteren Tag, und mit jedem Tag wurde es dunkler. Täglich ließen sie einen weiteren Kanister zurück, im Wissen, anders nicht weiterzukommen. Waren sie wirklich einmal aufgebrochen, um die Station Eismitte für den Winter mit Petroleum zu versorgen?
     
    Bald hatten sie nichts mehr als sich selbst.

    Von Weitem schon zu sehen: ein Turm aus Schnee, die Aufbauten der Wetterhütte, die nackten schwarzen Silhouetten des Strahlungsmessers, einige in den Firn gesteckte Ski, die Abspannungen, dazwischen lagen verstreute Petroleumdunke. Beim Näherkommen sahen sie, dass sich eine Mauer aus Schneeblöcken in weitem Halbkreis um das Innere der Station zog, von Schneewehen fast überragt. Der Theodolit, das Stativ der Firnwaage, was half es ihnen jetzt? Alles vollkommen unbeweglich, bis auf einen schmalen roten Wimpel, der vom Anemometermast flatterte wie die nutzlose Takelage eines auf offener See havarierten Bootes.
    Die Hunde, der knirschende Firn. War denn niemand da, der sie hörte? Dann ein Ruf: »Da sind sie«, und Georgi stürzte im langen Unterzeug herauf ins Freie. Umarmungen, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben verstand Wegener, warum Menschen einander umarmten. Freude über das Wiedersehen und womöglich noch stärker die Erleichterung, nicht weiterzumüssen. In Georgis Gesicht zeigte sich noch die Angst, die er in den letzten Wochen ausgestanden haben musste, das Gefühl, aufgegeben worden zu sein, ausgesetzt. Sah er denn nicht, dass sie ohne Vorräte waren? Wann würde er verstehen, dass sie keine Hilfe brachten?
    Auch Sorge tauchte nun auf, umarmte Wegener, sah ihm lange ins Gesicht und brach dann vorsichtig ein paar Klumpen von dem gefrorenen Reif aus Bart und Wimpern heraus. Rasmus wurde ebenfalls überschwänglich geherzt.
    Zuletzt traf Loewe ein, zu Fuß, weil seine Hunde nicht mehr hatten ziehen wollen. Nun wäre er an der Reihe für
Umarmungen gewesen, aber es misslang, weil er gleich zu Boden ging und unter keinen Umständen bereit schien, noch einmal aufzustehen. Georgi schob Wegener einen Kanister hin und klopfte dann unablässig auf das Blech, als Einladung, doch Platz zu nehmen. Die Verwunderung darüber, nicht länger kämpfen zu müssen.
    Und doch: Sie waren zu fünft, aber sie würden nicht alle bleiben können, sie hatten nicht genug für den Winter. Loewes erschöpftes Gesicht in dem kleinen Ausschnitt seiner Kapuze. Sorge mit seinem gewaltigen Vollbart, Arm in Arm mit Rasmus, die Hunde sprangen ihnen um die Beine, noch immer an die leeren Schlitten gebunden, niemand hatte sie losgemacht.
     
    Schließlich bat Georgi sie hinein, was in diesem Fall bedeutete: hinunter. Er ging voraus zum Eingang, einem schlichten Loch im Schnee. Über die Schulter gewandt, erklärte er ihnen die Situation: Mit Zunahme der Herbststürme sei das Zelt unbewohnbar geworden, so dass sie sich endlich unter die Firnoberfläche zurückgezogen hätten. Sorge habe sich seit seiner Ankunft wie ein Besessener ins Eis gegraben, um Temperaturen aus unterschiedlichen Tiefen zu bekommen. Er plane einen Aufsatz: Die Wärme des ewigen Eises. Sorge lächelte verlegen. Er reichte Loewe den Arm, der offenbar Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten.
    Die Treppe war steil und tief verschneit. Über eisglatte Stufen ging es abwärts. Vor Wegener tastete sich Georgi durch das Dunkel, dann Sorge mit Loewe und am Ende Rasmus, der noch die Hunde gefüttert hatte. Es mochte wohl fünf, sechs Meter hinuntergehen, der enge Gang und
überall Treibschnee. Wurde es im Eis wirklich wärmer? Wegener erkundigte sich nach den Außentemperaturen der vergangenen Woche, auf der Reise hatten sie am Ende nicht einmal mehr die grundlegendsten Aufgaben bewältigt. Befriedigt nahm er zur Kenntnis, die letzten Tage hätten neue Rekorde geschrieben. Minus vierundfünfzig Grad, es war also nicht nur ihre Erschöpfung gewesen, die sie hatte frieren lassen.
     
    In die Wände des Schachts waren Messergebnisse

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