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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Gesundheitslehre für jedermann aus dem Volke . Manchmal, wenn ihre Eltern nicht zusahen, nahmen die älteren Geschwister sie heraus und studierten die Bildtafeln mit Schauer und Entsetzen. Der Untertitel versprach einiges: Ärztlicher Rathgeber für jedes Lebensalter bei allen Verhältnissen des menschlichen Lebens, in Krankheitsfällen aller Art, namentlich auch Epidemien und Endemien . Dies war genau, was er brauchte. Die Bände hießen Abstrich – Kurzsichtigkeit und Labsal – Zyste . Alfred zögerte kurz und entschied sich dann für beide.
    Er fand eine Schachtel mit Streichhölzern, nahm einen der langen Späne heraus und achtete darauf, ihn ganz am Ende zu halten. Vorsichtig entzündete er eine Kerze, wickelte sich in die Tischdecke und nahm im Lehnstuhl Platz. Dann schlug er den ersten Band auf.
    Es war überwältigend. Nie hätte Alfred geahnt, auf welch vielfältige Weisen der menschliche Leib zugrunde ging. Wie angreifbar und schwach ein Körper war. In jeder Zeichnung eines Geschwürs glaubte er, Eichhörnchens schöne Haut zu erkennen, nun entstellt von der Wucherung. Selbst die Farbteile mit den Längsschnitten durch vernarbtes Gewebe erinnerten ihn an die Muster ihres Kleides, auch auf den Klapptafeln glaubte er, dass es ihre Lunge sein musste, die derart befallen war, ihre Bauchspeicheldrüse, ihre Milz. Anfangs hatte er sich vor jedem Umblättern den Zeigefinger geleckt, bald aber hielt ihn der Ekel davon ab.
Lauter neue Namen lernte er, manchmal unsicher, ob sie Teile des menschlichen Körpers bezeichneten oder seine Gebrechen. Aber jeden einzelnen verband er im Geiste mit seiner neuen Freundin, die sich immer weiter verstrickte in Lymphknoten und Darmschlingen, die an Gallenblasen litt, an Follikeln und an Prostata. Mit jeder neuen Seite rückte die Aussicht, Eichhörnchen jemals lebend wiederzusehen, weiter in die Ferne. Und wenn, wagte er nicht darauf zu hoffen, dass er sie noch erkennen würde.
    Als er spät in der Nacht die Bände zuschlug, schwirrte ihm der Kopf. Auf der Treppe hinauf zum Schlafsaal, mit der Hand am Geländer, um nicht umzufallen vor Müdigkeit, wusste er sicher nur eines: Es stand nicht gut um sie.
     
    Am Morgen blieb er im Bett, ohne genau sagen zu können, was es war, woran er litt. Es kam zu vieles in Betracht. Es tat gut, allein im abgedunkelten Saal zu liegen, auch wenn sich im Dämmern unheimliche Bilder vom Boden seines Bewusstseins lösten und hinauftrieben an die Oberfläche. Er suchte Flucht im Schlaf. Stundenlang wälzte er sich auf seinem Lager hin und her, von Zeit zu Zeit sorgenvoll betrachtet von der Mutter, die seine Fieberträume durch leichte Mahlzeiten und lauwarmen Tee unterbrach. Am Abend machte sie ihm Wickel, weil die Temperatur nicht sinken wollte. Mitten in der Nacht wachte Alfred auf, von seinem eigenen Seufzen geweckt. Auf halbem Wege zurück in den Schlaf sah er sich daliegen, sein Körper fühlte sich fremd an, als bewegte er sich von selbst und begänne unmerklich zu wandern. Alfred fühlte, wie ihm Flügel aus dem Rücken wuchsen, die sich über ihm zu einem Dach schlossen. Darunter lag er, ängstlich, zitternd
vor Hitze. Ein großes Dach, unter dem es ganz dunkel war. Er glitt hinauf, die Flügel trugen ihn, je höher er kam, desto heller wurde es um ihn, am Ende war es so weiß, dass er aufschrak. Im Halbdunkel des Schlafsaals erkannte er den Nachttisch und griff nach seinem Becher mit dem kalt gewordenen Kamillensud, nach dem Zwieback, dann saß er einfach da, das Kinn auf die Knie gestützt, und sah in die Dunkelheit, um nur nicht die Augen zu schließen, wo noch immer diese Bilder warteten. Am nächsten Morgen fiel die Temperatur, er fühlte sich kräftig genug, selbst zur Toilette zu gehen. Im kalten Flur hörte er aus der Küche die Stimmen seiner Eltern, das Flüstern seines Vaters und wie die Mutter sagte: »Er hätte sterben können«, und begriff, dass von ihm selbst die Rede war.

    Sonntags nach dem Gottesdienst durfte Eichhörnchen manchmal mit zu ihnen kommen, auf einen Esser mehr oder weniger kam es mittags nicht an. Auch sie war nun ein Schulkind.
    Alle gemeinsam gingen sie in ihren guten Sachen nach Hause, ein langer, schwarz gekleideter Zug. Die beiden Kinder trödelten und blieben hinter den anderen zurück. Es war ein strahlender Tag, schon jetzt am frühen Mittag sammelte sich die Hitze zwischen den Häusern, und Alfred musste seine Anzugjacke ausziehen. Er warf sie sich mit dem gleichen Schwung über die Schulter wie

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