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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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verloren.
     
    Nach den Feiertagen bettelten Alfred und Kurt um einen Raum für ihre Experimente, und die Mutter überließ ihnen ein unbenutztes Eck neben der Waschküche. Dem Vater sagte sie nichts davon. Jeder Groschen Taschengeld wanderte in die Drogerie. Zur Schule brachen sie morgens lustlos auf. Mittags dagegen konnten sie es kaum erwarten: auf dem Heimweg Karbid kaufen, zu Hause die Mäntel auf den Haken werfen, hinüberlaufen in ihr Labor, einige Löffel von dem Pulver in eine Dose häufen, etwas
Wasser daraufträufeln und rasch den Deckel fest verschließen, mit einer Heftzwecke ein Loch hineinstechen. Hielt man ein brennendes Streichholz vor die Öffnung, schoss eine Flamme hervor. Mit der Nagelschere ihrer Mutter korrigierte Alfred seinem Bruder die versengte Stirnlocke.
    Auf dem Trödel fanden sie eine alte Fahrradlaterne, für die sie ihre Ersparnisse nahezu aufbrauchten. Von den fünf verbleibenden Pfennigen erstanden sie eine Brennernadel für die Westentasche. Nun hatten sie Licht, wann immer sie es brauchten. Sie experimentierten mit dem Verhältnis von Brennstoff zu Wasser, mit dem Durchmesser der Düse, mit der Menge des verwendeten Karbids. Alfred notierte: »Je nachdem man länger oder kürzer Licht benötigt, fülle man mehr oder weniger des Materials ein.« Sie stellten Versuche zur maximalen Brenndauer an. Nach einer kurzen Unterbrechung notierte Alfred: »Die Lampe darf unter keinem Umstand vollständig befüllt werden, da sich Karbid bei Reaktion ausdehnt (Sprengwirkung).«
    Ohne Lampe mussten sie sich neue Experimente ausdenken. Kurt hatte die Idee, etwas von dem Karbid in die Ritzen zwischen die Pflastersteine des Hofes zu legen, durch die noch immer unaufhörlich Ameisen zogen. Einige von ihnen näherten sich rasch den Körnern, kletterten hinauf und versuchten sie von der Stelle zu bewegen. Nach kürzester Zeit rührte sich keine von ihnen mehr, und auch in den weiter entfernten Spalten war keine Bewegung auszumachen. Alfred notierte: »Die Feuchte des Bodens genügt zur Bildung von Acetylen, dessen spezifisches Gewicht schwerer als Luft zu
sein scheint, da es in die unterirdischen Gänge der Tiere dringt. Das Gas zeigt sich giftiger als vermutet. Eigene Versuche daher zunächst unterbrochen.«

    In der Tanzschule traf er Eichhörnchen wieder, zu einer jungen Frau gereift. Er hätte sie, wie sie einander in zwei langen Reihen gegenüberstanden, in der Riege der Mädchen nicht erkannt, aber als ihr Blick auf ihn fiel, verzog sie das Gesicht zu diesem Lachen wie damals hinter der letzten Kirchenbank.
    Die Leiterin der Tanzschule, eine ältere Frau mit tiefen Ringen unter den Augen, klatschte einmal, trat zwischen sie und begann mit der ersten Lektion. Sie sah in die Runde und sagte mit dunkler Stimme, sie brauche jetzt einen Mann. Dann zeigte sie mit einem langen, schmalen Finger auf Alfred.
    Was eben noch verwundertes Glück gewesen war, wich jäher Panik. Die anderen Jungen feixten, als Alfred in die Mitte des Saales trat. Die Tanzlehrerin nahm seine Hände und legte sie sich auf Rücken und Hüfte. Ihr Haar roch nach Tabak.
    Sie rief in den Saal: »Dieser junge Herr wird mir jetzt auf Schritt und Tritt folgen wie ein Kavalier!« Dann gab sie dem eingesunkenen Männchen am Klavier ein Zeichen, und ganz langsam drangen die Töne eines Walzers hervor. Die Frau zog einen Fuß zurück, schob dann den anderen zur Seite, und Alfred folgte ihr mit seinen Füßen, so gut es eben ging. Manchmal hatte Tony früher zur Musik, die aus der Wirtschaft am Kanal zu ihnen herausdrang, im
Spiel mit ihm Walzer getanzt. So war es jetzt wieder, nur dass es kein Spaß mehr war.
    Als das Stück endete, fragte die Lehrerin mit lauter Stimme, ob er sich nun zutraue, es einer Dame beizubringen. Ein paar der Jungen pfiffen leise durch die Zähne, von der Mädchenseite drangen kleine spitze Schreie herüber.
    Alfred nickte stumm.
    »Welche gefällt dir?«
    Alfred zeigte es ihr.
    Der Saalboden knarrte, als Eichhörnchen zu ihm kam.
     
    Sie war noch immer zart, inzwischen jedoch hoch aufgeschossen. Ihre Haare trug sie in der Art der Duse. Als sie auf ihn zuschritt, glaubte er, sie müsste ihn überragen. Aber zum Glück war er ja ebenfalls gewachsen. Auch sie senkte den Blick. Erst im letzten Moment vor der Berührung schauten sie beide noch einmal auf. Er legte seine Hände an ihre Seite, wie eben gelernt. Es fühlte sich anders an als bei der Lehrerin. Zu seinem Erstaunen musste er ihr nicht zeigen, wohin ihre

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