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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Heinrich, der ein Stück vor ihnen lief. Als sie auf den Mühlendamm traten, hielt Eichhörnchen ihn an der Jacke fest. Er drehte sich zu ihr um, aber sie zeigte einfach nur die Geleise entlang.
    Alfred sah den spitzen Turm der Petrikirche, er sah die heruntergelassenen Markisen von Fettenborn’s Conditorei, in deren Schatten die Kaffeehausgäste saßen, er sah den himmelblauen Himmel darüber. Dann sah er, was Eichhörnchen meinte. Am Ende der Fahrbahn flimmerte das Straßenpflaster wie Wasser, gerade kam vom Molkenmarkt eine Pferdebahn heran, es sah aus, als trabten die Tiere durch eine flache Pfütze.
    »Weißt du, was für ein Wasser das ist?«
    Alfred zuckte mit den Schultern, was sollte etwas, das kein Wasser war, schon für ein Wasser sein?
    Eichhörnchen fuhr fort: »Wer hineinfällt, geht unter und stirbt. Wir sehen das Wasser nur aus der Ferne. Wenn wir mit Sterben an der Reihe sind, sehen wir es auch aus der Nähe.«
    Alfred stellte sich vor, wie es sein müsste, in einem See zu treiben, der ganz flach war. In einem See, den es gar nicht gab. Er sah sich selbst, auf einmal winzig klein in einer riesigen, glitzernden Fläche, die bis zum Horizont reichte, wie er mit den Armen schlug. Er versuchte das Bild zu vertreiben, aber es gelang ihm nicht. Er nahm sich vor, Gründe zu finden, warum man in einem solchen See nicht ertrinken konnte.
    Als Alfred aufschaute, sah er, wie seine Eltern und Geschwister in dieses Flirren hineintraten, schon versanken ihre Füße darin, es sah aus, als liefen sie durch Wasser, aber es störte sie nicht, sie liefen einfach weiter, immer tiefer hinein.

    Die Großstadtluft machte Alfred blass und müde. So zumindest erschien es Anna Wegener, die ihren Jüngsten zunehmend bekümmert betrachtete. Alles gab ihr Anlass zur Sorge, sein Husten, seine Art, sich die Schläfen zu reiben, die trotzig vorgeschobenen Lippen, die weichen Züge. Selbst die grauen Augen hatten ihren durchdringenden Blick verloren und sahen stumpf und zweifelnd aus. Da ging der Vater hin und kaufte das alte Direktorhaus der aufgelassenen Kristallglashütte bei Rheinsberg. Es war das Geburtshaus seiner Frau, die nach dem frühen Tod ihrer Eltern bei Verwandten aufgewachsen war. Das lang gestreckte Gebäude lag direkt am Ufer des Schlabornsees, er fand es verlassen und leer. Zwei Tage lang fuhr er über die Dörfer und kaufte die Mahagonimöbel von Annas Eltern auf, die in der Umgegend verstreut waren, die Spiegel und die Bilder, dann war es wieder ein Heim.
    In allen Ferien ging es nun dorthin, zu Erntedank, an Nikolaus, nach den Festtagen. Wenn der Stellwagen sie zum Stettiner Bahnhof an der Invalidenstraße brachte, sangen den Kindern die Räder: Es geht nach der Hütte, es geht nach der Hütte! Im klappernden Eisenbahnwaggon malten sie sich aus, was es dort draußen für sie zu tun gäbe, am See, im Licht, in den Wäldern. Endlich pfiff der Zug ein letztes Mal, und sie stiegen hinunter auf den nassen, sandigen Boden neben dem Gleis. Während die Eltern mit dem Gepäck auf einem Wagen fuhren, liefen die Kinder zu Fuß durchs Unterholz.
    Wie herrlich still es war im Wald. In einer langen Reihe zogen alle Geschwister nebeneinander her, hier draußen lag noch Schnee, der unter ihren Stiefeln knirschte. Die
Stämme der Kiefern standen nackt, dazwischen Eichen und Buchen, manche davon umgestürzt. Wenn sie unter dem Schnee Bucheckern fanden, warfen sie ihre Handschuhe fort und sammelten, bis ihnen die Finger fast erfroren. Nachher standen sie zusammen in der Dämmerung, mit dampfendem Atem, und schälten die Früchte mit Fingernägeln und Zähnen wie Nagetiere. Sie aßen, bis keiner von ihnen eine einzige Buchecker mehr hatte, und liefen dann weiter, noch dichter beieinander als vorher.
    Beim Erreichen des Sees waren sie verschwitzt und müde. Das Wasser glänzte im letzten Tageslicht. In der offenen Tür stand die Mutter und half den Kleineren aus ihren Mänteln.
    Es gab eine Suppe aus Brot und Fisch, und immer gingen sie erst schlafen, nachdem sie von den Giebelfenstern aus die Sterne betrachtet hatten. Es waren so viele, dass ihnen die Augen tränten.
     
    Am Morgen liefen sie noch vor dem Frühstück hinaus auf den See, immer glitt einer von ihnen beim ersten Schritt aufs blanke Eis aus, die anderen halfen ihm auf, und gemeinsam schlitterten sie bis in die Mitte, die Arme zur Seite ausgestreckt, als würden sie fliegen. Sie lieferten sich lange, unbarmherzige Schneeballschlachten, in jederzeit wechselnden

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