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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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zurück in den Umschlag. Jeder hier kannte den Wachtmeister, schon von Weitem hatten sie ihn entdeckt. Kein anderer trug seine Kappe auch nur annähernd so schräg auf dem kahlen Schädel. Die anderen waren ungeschoren davongekommen, weil sie nicht gesungen hatten. Das Lied vom Eskimann und seiner Eskifrau, eine Strophe nach der anderen hatte Wegener sich ausgedacht, zu seiner eigenen Verblüffung. Da hatte er nicht aufhören wollen, nur weil ein schnauzbärtiges Ei um die Ecke kam.
    Er würde nachher auf die Wache müssen, Eiermann hatte ihm eine Strafe verpasst. Fünf Mark, das waren zwei Wochenmieten. Wegener war jetzt Schlafbursche bei einem kinderlosen Ehepaar. Am Ende der Strafverfügung stand, dass bei Unbeibringlichkeit an die Stelle der Zahlung eine
Haft von zwei Tagen trete. Für einen Moment überlegte Wegener, ob er damit nicht besser fahren würde. Aber die Aussicht, in einer engen Zelle zwischen lauter Delinquenten zu hocken, war nicht verlockend.
    Am Nachmittag wollte er sich endlich ein Fahrrad kaufen, für den Weg zur Hochschule. Es würde wohl doch kein Wanderer werden. Vor ihm lag die ausgeschnittene Katalogseite : »Wer eine kleine Mehrausgabe nicht scheut, wähle die altbewährte Marke«, das kam jetzt nicht mehr infrage.
    Dann also Stukenbrok, Wegener musste das Blatt in dem Stapel erst suchen: »Erstklassige Spezialitäten in Fahrrädern, Nähmaschinen und Waffen. Auch meine billigsten Modelle sind zuverlässig.« Das war ein Wort.
     
    Am Ende wurden es sogar sieben Mark Strafe, Wegener war auf der Wache ein wenig laut geworden. Auf dem Hof des Zweiradladens ging er von Gefährt zu Gefährt, dicht gefolgt vom Meister, einem dürren Staks, kaum älter als er selbst, der während der Erklärungen mit ölverschmierten Händen gestikulierte. Dunkle Streifen zogen sich über seine Schläfe, weil er beständig versuchte, sich eine Locke aus der Stirn zu streichen, die es gar nicht gab. Er hatte einen leichten Silberblick und zwinkerte wie wild. Unter Ärzten gab es die Vermutung, das Benutzen eines Velozipeds ziehe geschlechtliche Erregung, Impotenz und charakterliche Einbußen nach sich. Der Mann vermochte die These zumindest nicht zu entkräften. Dennoch: Wegener gefiel die Begeisterung, mit der er seine Empfehlungen vortrug. Wie er in seinem Element war. Warum es nicht ebenso machen und ein Geschäft eröffnen? Aber was sollte er verkaufen, was war sein Element?

    Wegener nannte seine Möglichkeiten. Für einen Moment verstummte der Händler und riet dann zu einem Deutschland-Fahrrad. Er führte ihn zu dem Modell. Am vorderen Schutzblech prangte ein Schildchen mit der Inschrift: »Mein Feld ist die Welt.« Wegener strich einmal herum, dann nickte er. Das gefiel ihm. Am Ende blieb sogar noch Geld für einen kleinen Tropenhelm, er hatte gesehen, dass man so etwas jetzt trug, es schützte vor der Sonne. Er probierte ihn auf und fragte, wie er sich damit mache.
    Der Verkäufer lachte: »Das steht jedem. In Paris tragen es mittlerweile selbst die Damen auf dem Rad. Mit einem Schleier vor den Augen, gegen die Fliegen.«
     
    Die Frage blieb in seinem Kopf: Wo sollte er glänzen? Er hätte überall glänzen können. Stattdessen hielt er sich versteckt. Die Schule hatte er als Primus omnium verlassen, aber wozu? Jeden Morgen fuhr er in ein anderes Institut, griff in der Bibliothek eine Handvoll Grundlagenwerke, mit denen er sich in einer Ecke verkroch. Palaeontologie der Wirbelthiere, Seerechtliche Propaedeutik, Praktischer Cursus der Zeugung, es war ihm alles recht. Spätestens nach zwanzig Seiten stellte er die Bände zurück ins Regal. Warum musste er das nachvollziehen, es stand ja alles schon dort. Sollte er je in Kalamitäten geraten, würde er hier zu jedem vorstellbaren Gegenstand finden, was immer sich davon sagen ließ. Alle sprachen sie jetzt vom Aufschwung der Mathematik und erwarteten Gott weiß was für Erkenntnisse davon. Wegener schätzte das Rechnen nicht. Er wollte sein Leben nicht auf Zetteln zubringen.
    Die Physik war an ihrem Ende angelangt, das war die allgemeine Überzeugung. Was sich beschreiben ließ,
war beschrieben. Ja, und? Bliebe noch immer das Unbeschreibliche. Hatte man sich nicht einfach darauf beschränkt, die handfesten Dinge zu erklären? Was lange genug stillhielt, um sich wiegen zu lassen, war gewogen. Was auf einen Glasträger passte, hatte man mikroskopiert. Wer erforschte die Unvorhersehbarkeit eines Wirbelsturms? Wegener verlangte es danach, dahinter zu gelangen,

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