Alles Land - Roman
du in deiner Natur liest, dichtest du selbst hinein.«
»Nicht anders tust du es mit deiner Bibel.« Alfred warf einen schnellen Blick hinüber, bevor er hinterherschob: »Du bist viel eher ein Dichter als ich.«
Die Augen seines Vaters wurden schmal. »Sieh dich vor, was du sagst.« Er hatte sich erhoben.
Auch Alfred stand jetzt auf. Er trat hinter seinen Stuhl und hielt die Lehne fest umklammert. »Ich werde in den Naturwissenschaften eher die Wahrheit finden als du in Gottes Wort.«
»Soll das eine Wette sein?«
»Nenn es, wie du magst.«
»Worum sollten wir wetten?«
»Ums Himmelreich?«
»Mach keine Scherze.«
Sein Vater ließ ihn einfach im Zimmer zurück.
Er wollte alles, was immer das war. Zum Hörsaal fuhr Wegener mit seinem Deutschland-Fahrrad. Bei Planck belegte er die Theorie der Wärme, die einigen Eindruck hinterließ. Es verlangte ihn danach, alles zu wissen, jetzt erst recht. Wie hatte Wilhelm in seiner Hunnenrede gesagt? Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht. Auch Wegener war nicht danach, Gefangene zu machen. Kein Pardon, am wenigsten mit sich selbst.
Er hörte die Theorie der Sonnenfinsternisse, die Strömungstheorie, die Theorie der speciellen Störungen, außerdem Ausgewählte Capitel aus der Fehlertheorie, er nahm jetzt jedes, wie es kam, im Gefühl, dass ihm alles einmal nützlich werden würde. Er studierte die Berechnung der Wolkenhöhen. Bei Wolf hörte er Meteorologie und notierte in einem Heft die Ursachen des Klimas: »1) Lage 2) Höhe 3) Luftströmungen. Letztere ganz besonders. Sie sind sehr kompliziert.« Den letzten Satz unterstrich er. Wenn er in der Dunkelheit vom Institut nach Hause fuhr, am Ufer des Kanals, meinte er zu vibrieren.
Vierundzwanzigjährig wurde er promoviert. Seine Dissertation umfasste keine vierzig Seiten, dennoch gelang es ihm, ein Wort König Alfons’ des Weisen hineinzuschummeln : »Hätte Gott mich bei der Erschaffung der Welt zurate gezogen, ich hätte ihm größere Einfachheit empfohlen.«
Als Wegener nach vorne schritt, um die Ehrung entgegenzunehmen, applaudierte man stehend. Am Fuß der Urkunde stand: Sagacitatis et industriae specimen laudabile . Daheim schlug er nach, was es bedeutete.
In der Nacht ging Wegener am Spreeufer spazieren und betrachtete das pockennarbige Gesicht des Mondes. Noch immer gab es keine haltbare Theorie, die hätte erklären können, was den Trabanten so zugerichtet hatte. Ein Großteil der Fachwelt tippte auf erloschene Vulkane, aber was sollten das für Vulkane sein, die solch riesenhafte Krater bildeten. Andererseits: Welche andere Ursache kam infrage?
Es war wie immer. Am Anfang stand vermutlich eine Katastrophe. Wie wenig Veränderungen es im Universum gab, die nicht durch Katastrophen ausgelöst wurden. Ihm fiel genau genommen keine einzige ein. Was aber löste diese Katastrophen aus?
Hätte man ihn gefragt, dachte Wegener, als er über die Jungfernbrücke ging, er hätte auf eine äußere Ursache getippt. Die meisten Ursachen kamen von außen. Vielleicht war er ein wenig betrunken. Kurz musste er sich am Geländer der Brücke abstützen. Der Mond schwamm im Wasser des Kanals und sah dort unten auch nicht unwirklicher aus als am Himmel. Wegener suchte sich einen Kiesel und schleuderte ihn über das Geländer hinunter. Der Stein traf den Mond zwischen den Augen, so dass er das Gesicht verzerrte. Eine kreisförmige Welle hob sich empor, lief nach innen, schleuderte dort ein paar Tropfen in die Höhe und floss dann zu den Rändern hin ab.
Wegener kniff die Augen zusammen. Für einen kurzen Moment hatte er tatsächlich das Bild eines Kraters gesehen. Vielleicht war es nichts als eine Lichtspiegelung, wie so vieles. Er würde besser noch ein wenig stehen bleiben und zu Luft kommen.
Als er weiterging, war ihm besser. Er tastete sich durch die schwarze Einfahrt. Im Hof waren alle Fenster dunkel. In einer Ecke lag noch immer der Haufen mit grobem Mergel, der am Morgen geliefert worden war. Im silbrigen Licht des Mondes sah er aus wie Mondgestein. Die Steinchen knirschten unter seinen Schuhen, als Wegener hinaufkletterte. Oben angekommen, bückte er sich nach einem besonders dicken Brocken und warf ihn mit Schwung auf die anderen.
Nichts geschah, abgesehen von einem einzelnen Steinchen, das gegen seinen Stiefel spritzte. Von einem Krater keine Spur, die Steine waren viel zu schwer und grob, aber waren das die Steine auf dem Mond nicht auch?
In der Küche bereitete er einen Tee, verbrannte
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