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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Hände gehörten.
    Das Männchen begann wieder zu spielen, zwei, drei Takte lang hörten sie zu, Alfred spürte, wie Eichhörnchen sich wiegte, dann schob er den Fuß vor, und sie folgte. Zur Seite und wieder zurück und die leichte Drehung dabei. Über ihre Schulter hinweg blickte er aus dem Fenster, wo aus Schornsteinen Rauch aufstieg, der sich im klaren Himmel verlor. Das Männchen spielte einen Triller. Alfred warf einen kurzen Blick auf ihr Gesicht, sie hatte die Augen geschlossen.

    In der Pause erklärte sie ihm, warum sie damals nicht mehr gekommen sei: »Meine Mutter starb, ich wurde nach Bad Muskau gebracht, zu den Großeltern. Aber nun hat der Vater neu geheiratet, da konnte ich zurück.«
    Sie lachte, als er ihr gestand, wie er sie damals heimlich genannt hatte. Alfred beschloss, es bei Eichhörnchen zu belassen.
    Am Ende des Nachmittags, als sie schon draußen auf der Straße standen, reichte er ihr die Hand, und sie griff danach und ließ nicht mehr los. Sie blickten beide hinunter auf ihre Hände, wo Eichhörnchens Finger über seine Knöchel strichen, über die Warze am Daumen, über die kurzen, kratzigen Fingernägel. Seit er sich angewöhnt hatte, daran zu kauen, musste die Mutter ihm die Nägel nicht mehr schneiden.
    Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie sie die Augen niederschlug. Er sah ihr Gesicht, die wilden, offenen Haare, die sich nicht hinters Ohr streichen lassen wollten. Die Haut auf ihren Wangen. Ihre Nase war nicht mehr ganz so spitz wie damals beim Vaterunser, aber die Augen standen noch immer weit auseinander. Er sah den Hals und weiter hinab. Er wünschte sich, einen Aufsatz für sie zu schreiben. Oder über sie. Über ihren Körper im Wesentlichen.
    Als er hinab zu ihren Händen sah, stellte er fest, dass sie aufgehört hatte, ihn zu streicheln. Jetzt hielten seine Finger ihre Hand fest umklammert. Erschrocken ließ er sie los und sprang zurück. Mit rotem Kopf nickte er ihr mehrmals zu, sie zog die Schultern hoch und sah für einen Moment wieder aus wie ein kleines, verschrecktes Tier.

    Dann wandte er sich um und lief fort, ohne sich noch einmal nach ihr umzuwenden. Auf dem Heimweg fragte er sich, was er mit seinem Nicken beabsichtigt hatte.
    Auf jeden Fall würde er sie nicht mehr wiedersehen. Wozu tanzen? Er war ja längst einer anderen Braut versprochen. Der Wissenschaft.

Das Antlitz des Mondes
    Das Neue Jahrhundert kam mit der Post. »Wie eine Katze, die an der Tür des Herrenzimmers kratzt, fragt die deutsche Frau: Darf ich radeln? Darf ich Romane schreiben? Darf ich Medizin studieren? Darf ich Zola lesen?« Der Titel der Zeitschrift hatte ihn verführt, sich ein Probeheft kommen zu lassen. Sein Hauswirt Messerschmidt war ihm ins Frühstück geplatzt, um die Post zu bringen. Alfred Wegener goss Kaffee nach und las weiter. Es gab einen Bericht über den Bau rollender Bürgersteige zur Pariser Weltausstellung, eine Betrachtung zum brüchigen Kriegsglück der Briten im Burenkrieg. Stormberg, Magersfontein, Colenso, lauter verlorene Schlachten, aber ihm war das alles zu gedankenblass, zu libertär, letztlich zu katholisch.
    Auch der Kaffee war nicht stark genug. Wegener stellte die Tasse zurück aufs Tischchen. Flüchtig blätterte er noch die Zeitung durch, aber ihn interessierte nicht, dass zum ersten Januar das Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft getreten war, so aufgeregt sein Heidelberger Tageblatt die Neuigkeit auch kommentierte. Er interessierte sich nicht für die Jahrhundertfeiern, die Wilhelm II. im fernen Berlin ausrichten ließ, es interessierte ihn ja nicht einmal, dass der Kaiser anschließend nach Stettin aufbrach, um die Deutschland
vom Stapel zu lassen, und wenn es zehnmal das größte und schnellste Schiff des Reiches war.
    Für ihn hatte das neue Jahrhundert mit Zirren begonnen. Ausgesprochenes Vorderseitenwetter, fallender Druck, Aufzugsbewölkung, es würde nicht mehr lange schön bleiben. Auch er selbst fühlte sich abgespannt und nervös, zudem brummte ihm der Schädel.
    Unter der Zeitung fand er ein Kuvert und öffnete es: »Der Angezeigte Alfred Wegener, Student, ist beschuldigt, in der Nacht vom 2./3. ds. Mts. um 3 Uhr groben Unfug & Ruhestörung dadurch verübt zu haben, dass er mit umgehängtem weißen Tuch durch die Hauptstraße nach dem Marktplatz zog und dabei durch überlautes Schreien ungebührlicherweise ruhestörenden Lärm erregte. Schutzmann Eiermann.«
    Eiermann. Dieser Kretin. Wegener nahm einen weiteren Schluck und schob das Schreiben

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