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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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sich dem Unvorstellbaren zu widmen, dem Flüchtigen. Der Berechnung des Nichtberechenbaren so nahe zu kommen wie irgend möglich.
    Bei Valentiner hörte er Allgemeine Astronomie. Murmelnd dozierte Quincke über Experimentalphysik. Wegener war nicht der Einzige, den erst das Trampeln aufbrechender Studenten weckte. Wen interessierte der Spektralverlauf einer fernen Sonne, es gab sie ja ohne jeden Zweifel? Was war die immer gleiche Bahn eines Jupitermondes im Vergleich zum Hitzeflirren der Straße, das Eichhörnchen ihm gezeigt hatte, und wie es im Näherkommen verschwunden war?
    Nach wenigen Wochen blieb er den Vorlesungen fern. Stattdessen schloss er sich einer Verbindung an und war bald häufiger auf dem Fechtboden anzutreffen als im Kolleg. Er trank Bier. Ein Kommilitone schrieb nach Hause, Wegener tobe sich gründlich aus. Eine einzige Vorlesung besuchte er in diesem ersten Jahr bis zum Ende: Rätsel der Himmelsmechanik, privatim, aber gratis.
    Im Frühjahr wechselte er nach Innsbruck, um auf andere Gedanken zu kommen. Statt zu studieren, kaufte er sich vom schon nicht mehr ganz reichlichen Wechsel Bergschuhe, Steigeisen, Pickel und Seil. So ausgerüstet, erkundete er tagelang Geologie und Botanik der Stubaier, Ötztaler, Tiroler und Zillertaler Alpen.

    Er passierte die Waldgrenze, die Baumgrenze, die Schneegrenze, als reiste er in ein kälteres Land. Und was sich aus der Ferne so scharf hatte unterscheiden lassen, floss hier aus der Nähe auf verstörende Weise ineinander. Einzeln stehende Krüppelkiefern, Latschenfelder, Matten, dann Firnflecken. Er sah Murmeltiere aus dem Nichts vor sich auftauchen, für einen langen Moment ebenso erschrocken wie er selbst, bevor sie mit einem schrillen Pfiff wieder verschwanden. Er sah das Licht und wie es sich zwischen den Gipfeln verlor. Sobald er das erste geschlossene Schneefeld erreichte, ließ er sich rückwärts ins Weiß fallen und lag so da, eingefasst, auf beruhigende Weise. Wenn die Zweifel zurückkehrten, stapfte er auf den nächstgelegenen Kamm und sah hinunter in die Täler. Beim Abstieg schmerzten ihm die Knie.
    Einige Wochen lang hörte er auf, sich zu rasieren.
    Abends sah er durchs Fenster das Alpenglühen und dachte an die Religion. War es das, wonach er suchte? Immer war Gott einer von ihnen gewesen, ein Mitglied der Familie. Dann hatten sie einander aus den Augen verloren. Wollte Gott sich ihm hier draußen zeigen, in der Schönheit seiner Schöpfung?
     
    Schon im Sommer kehrte Wegener zurück nach Berlin.
    Er kam bei den Eltern unter, die ihren Sohn verändert fanden. Sie drangen nicht weiter in ihn. Er half im Garten. Wie jung die Waisenkinder waren. Abends, wenn die neuen Geschwister schliefen, saß er mit den Eltern am langen Tisch und erzählte von der Wissenschaft. Der Vater schwieg, die Mutter reichte Selbstgebackenes. Zum ersten Mal schmeckte Wegener ihr Quittenbrot. Erst am Ende des
Abends, als die Mutter schlafen gegangen war, begann der Vater zu reden.
    Leise fragte er, wie er es mit dem Glauben halte. Alfred musste schlucken, er spielte mögliche Antworten durch, die sich leichter hätten sagen lassen als die Wahrheit. Dann gestand er, seit Monaten nicht mehr in der Kirche gewesen zu sein.
    »Warum?«
    »Sie leugnen den Zweifel.« Alfred visierte seinen Vater über die Ecke eines Quittenbrotes an. »Und du? Bist du denn ohne Zweifel?«
    Für einen Moment blieb der Vater stumm, und dieses Schweigen verriet ihn, selbst als er doch noch zu reden begann, mit seiner Predigerstimme: »Wer sich dem Zweifel überlässt, verliert den Boden unter den Füßen. Wer einmal damit beginnt, ist verloren, es gibt kein Zurück.«
    Alfred unterbrach ihn: »Ich glaube dir nicht. Ich glaube deinen Psalmen nicht. Ich glaube nicht, dass sich darin etwas offenbart.«
    »Wo sonst?«
    »In der Natur.« Alfred holte Luft. »In ihrem Buch müssen wir lesen.«
    »Auch darin steht nicht, wo der nächste Blitz einschlägt. Es liegt allein in Gottes Hand.«
    »Von welchem Gott sprichst du. Von Zeus?«
    »Hüte deine Zunge. Du wirst niemals wissen, wohin eine Schneeflocke fällt, deiner Wetterkunde zum Trotz. Es wird dir nicht gelingen, eine Sternschnuppe zu fangen.«
    »Ich werde es versuchen. Und wenn ich es nicht erreiche, kommen nach mir andere.« Wegener holte Luft. »Der Wissensdrang des Menschen ist unaufhaltbar.«

    »Ich verlange Demut.«
    »Vor Gott?«
    »Vor mir.« Nun war es sein Vater, der Luft holte. »Die Wissenschaft der Natur ist nichts als Menschenwerk. Was

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