Alles Land - Roman
sich erst die Zunge daran und ließ ihn dann so lange vor sich auf dem Tisch stehen, bis das Getränk vollkommen erkaltet war.
Er sah aus dem Fenster, hinter dem nichts war als die Dunkelheit und der Mond. Es war ja alles viel kleiner hier unten bei ihnen.
Aus der Abstellkammer trug er einige Tüten Puderzucker herbei und schüttete alles auf den Küchentisch. Er nahm eine Handvoll Kirschen aus der Schüssel am Fenster und aß ein paar davon, bevor er es wagte, die letzte mit aller Kraft in die Puderzuckerlandschaft zu schleudern.
Als der Staub sich verzogen hatte, lag die Kirsche am Boden eines Kraters. Um sie herum hatte sich ein kleiner Ringwall gebildet, mit steil abfallenden Rändern. In der Mitte des Kraters erhob sich eine winzige Säule, neben der die Kirsche lag. Sie war geplatzt, ihr Saft hatte den Boden des Kraters rot gefärbt. Der Kern war halb herausgeschleudert. Mit den Fingern löste Wegener das Fruchtfleisch ab und steckte es sich in den Mund. Es schmeckte süß von dem Zucker, der daran klebte. Er fegte die Versuchsanordnung in den Kehricht und legte sich schlafen.
Im Bett notierte er: »Verkleinerung der Größendimension muss eine Verkleinerung der Gesteinshärte nach sich ziehen. Diese Idee möchte ich weiter verfolgen.« Er schlief schlecht in dieser Nacht. Später machte er noch
einmal Licht und ergänzte: »Entschiedene Suche nach Meteoritenkratern würde vermutlich auch hier unten Funde zeitigen.«
Sein Bruder Kurt überredete ihn, sich mit ihm zum Jean-Pleinars-Cup anzumelden, einer Wettfahrt im Gasballon. Kurt arbeitete nun als Assistent am Aeronautischen Observatorium in Lindenberg und war ein erfahrener Pilot geworden. Erst bei der Anreise gestanden sie einander, dass es ihnen eher um den Anlass für eine gemeinsame Fahrt ging als um den Sieg. Welchen Nutzen brachte es, so lange wie möglich in der Luft zu bleiben?
Sie fanden ein Gasthaus und schliefen gemeinsam unter einem schweren runden Federbett. Kurt schwitzte stark, und auch Alfred tat kaum ein Auge zu. Als die Wirtin noch bei Dunkelheit mit einer Kanne Hagebuttentee zum Wecken kam, saßen die beiden längst gestiefelt und gespornt auf der Bettkante. Der Tee war süß, sie tranken, als seien sie eben einer Feuersbrunst entronnen.
Im Morgengrauen trafen sie auf der Wiese am Ortsrand ein. Sie waren die Einzigen, die noch nie an einer Wettfahrt teilgenommen hatten, mit Abstand die Jüngsten und die Einzigen, denen ihr Fluggerät nicht selbst gehörte. Sie hatten es vom Luftschifferbataillon für eine Nachtfahrt überlassen bekommen. Von dort kam auch das Gas, für vierunddreißig Pfennige pro Kubikmeter.
Schon begannen sich die ersten Ballons aufzurichten wie schläfrige Riesen, daneben standen die Körbe, mit Wimpeln und Fähnchen geschmückt. Photographen schritten von einem zum anderen, überall blitzte Magnesium auf.
Den Piloten stand ein Stolz in den Gesichtern, als wären sie Jäger und hätten das riesige Ungetüm neben sich eben zur Strecke gebracht. Am Rande der Wiese war ein langer Tisch aufgestellt, hinter dem in schwarzen Mänteln und Hüten die Kommission saß. Dort meldeten die Brüder sich an, sie bekamen die letzte Startnummer zugeteilt.
Abgehoben wurde im Minutentakt. Ein Ballon nach dem anderen kappte die Seile und stieg auf in den jungen Tag. Während Kurt noch mit der Vertäuung zugange war, stand Alfred bereits im Korb und sah den riesigen bunten Bällen zu, wie sie sich nacheinander vom Boden lösten, um langsam und unbeirrbar hinauf in den Himmel zu schweben. Hatten die anderen Gegenstände einfach noch nicht gemerkt, dass dies nun die Richtung war, wohin die Schwerkraft zog? Als hätte jemand die Schneekugel umgedreht, in der sie alle lebten, und die dicken, bunten Tropfen lösten sich einfach als Erste, bevor in kürzester Zeit alles andere folgen würde, die am Rand der Wiese parkierten Fuhrwerke mitsamt den grasenden Pferden, der Tisch mit den Ausrichtern der Wettfahrt, die Picknickkörbe der Zuschauer und womöglich die Zuschauer selbst. All die Zapfen der umliegenden Wälder würden nicht mehr zu Boden fallen, sondern auffahren zum Himmel, ebenso die Steine, die Blätter im Herbst, alle Tiere des Waldes und des ganzen Landes und all die Menschen, jeder für sich, hinauf in unendliche Höhen.
Ein Schiedsrichter weckte Wegener aus solchen Überlegungen. Mit einem Schreibbrettchen trat er heran, von dem er die Startzeiten ablas. Er teilte den Brüdern mit, sie möchten sich nun bereit machen.
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