Alles Land - Roman
er sich am Ende fast ohne Widerstand herausbringen ließ.
Endlich wurde es heller. Anfang Februar warf Wegener zum ersten Mal wieder einen Schatten, eine erschreckend schmale, unscharfe Kontur, der er im Überschwang um den Hals gefallen wäre, hätte sie nicht Reißaus vor ihm genommen. Die Rückkehr des Tageslichts gab ihm ein wenig von seiner Gemütsruhe zurück. Mittags unternahm er weite Gänge über den Firn, der Sonne entgegen. Wenn das Gelände es erlaubte, lief er mit geschlossenen Augen und genoss das Licht auf seinen Lidern. Am liebsten wäre er gar nicht mehr umgedreht. In diesen Momenten hatte er keine Furcht, im Eis verloren zu gehen. Er folgte in einem weiten Bogen der langsam westwärts ziehenden Sonne und versuchte im Kopf die Kurve zu berechnen, die seine Spur im Schnee beschrieb. Irgendwann aber rief er sich jedes Mal zur Ordnung. Und wirklich beschenkte ihn ja auch der Rückweg mit dem Widerschein des Lichts von allen
Seiten, und auch davon bekam er gar nicht genug, von dieser gewaltigen, aber absolut toten Natur.
Was man nun in dem allgemeinen Schmelzen für Geräusche zu hören bekam. Obwohl es kaum Anlass gab, Besuch zu erwarten, rannte er manchmal vor die Tür, so sicher hatte er das Knirschen von Fußtritten im Firn gehört. Aber da war niemand. Oder nur der Wind und womöglich eine Art Ohrensausen.
Er hatte wenig Sammlung für längere Arbeit. Oft stand er stundenlang am Fernrohr und überprüfte, ob jemand am Horizont auftauchte, um nach ihm zu sehen. Ihn stärkte das Wissen, nun jederzeit zurückgehen zu können.
Er erwartete jetzt nur noch ganz im Allgemeinen, dass irgendetwas sich ereignete. Für eine bestimmte Hoffnung gab es zu viele Möglichkeiten. Oder zu wenige.
Allem Verlangen zum Trotz behielt er Respekt vor der Heimkehr. Wie würde es ihm gelingen, sich einzugewöhnen in die alte Welt? Kurzzeitig spielte er mit dem Gedanken, nach seiner Rückkehr nach Europa ein Lebemann zu werden. Es sammelte sich doch ein starker Lebensdurst in ihm an. Er sehnte sich nach Else und war jeden Tag aufs Neue froh, wie klar ihre Züge ihm vor Augen standen. Aber irgendwo saß die Sorge, ob es ihm nicht eher um die Leidenschaft dieser Sehnsucht ging als um die Leidenschaft ihrer Erfüllung. Als könnte die Klarheit von Elses Bild gerade in dem Moment zu verblassen beginnen, da er vor ihr stand.
Es war jetzt nahezu ständig hell.
Dann kehrte er zurück zu seinen Kameraden, den Schlitten zog er allein. Freuchen entdeckte ihn als Erster und kam ihm entgegengelaufen. Sie umarmten sich, dann standen sie voreinander. Mylius-Erichsen sei im Eis geblieben. Wegener war nicht in der Lage, die Nachricht zu ertragen. Freuchen zog ihn am Arm zur Hütte. Alle begrüßten sie ihn mit einer Freude, auf die nichts folgte. Er war stiller geworden, das merkte er selbst. Auf Fragen, wie es ihm ergangen sei, antwortete er ausweichend. Was sollte er sagen?
Zuletzt hatte er nachts, wenn er sich zum Schlafen legte, den Eindruck gehabt, ihm gleite etwas aus den Händen. Erst meinte er, auf der dünnen Matratze hin und her zu rutschen. Er hatte sich mit dem Gurt des Überseekoffers ans Bett gefesselt, um nicht den Halt zu verlieren. Das machte es nicht besser. Er hatte zu spüren geglaubt, wie das ganze Bett in Bewegung geriet, was nicht sein konnte, es stand ja fest. Waren das Träume? Aber er lag doch wach. Wie sollte einem der Unterschied zwischen Tag und Nacht nicht verschwimmen, wenn es niemals dunkel wurde? Wie sollte man in dieser Landschaft aus Eis nicht auf die Idee verfallen, alles gerate ins Rutschen. Am Ende hatte er gemeint, die ganze Hütte gleite auf dem Firn allmählich hinunter zum Wasser. Er begann sich nach richtigen Träumen zu sehnen, nicht nach diesen Vorstellungen, wie er sie mittlerweile nannte, die Bilder vor dem Einschlafen oder beim Aufwachen oder bei einer Pause in der Tagesarbeit. Stattdessen begann er Pausen zu vermeiden und schuftete nun wie ein Wilder: Er hatte den Fjord kartographiert, geologische Profile am Bach erstellt, er hatte Welterklärungen erdacht und jede von ihnen wieder verworfen. Er hatte gearbeitet, bis
ihm vor dem Einschlafen keine Zeit für Abschweifungen mehr blieb, so müde fiel er aufs Lager.
Zuletzt waren in seinen Pustervig-Träumen Schiffe aus Fingernägeln gefahren, mit Riesen am Steuer, es hatte friedlich ausgesehen. Erst als der Traum wiederkehrte, war ihm aufgefallen, dass sie gar nicht auf dem Wasser fuhren, sondern auf brennendem Land.
Seine
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